Casas vacías – Brenda NavarroVerlag: Kaja Negra | Seiten: 164 Erschienen: 2020 |
Kurzbeschreibung
Mexiko City. Eine Mutter lässt ihren Sohn für einen Augenblick auf dem Spielplatz unbeaufsichtigt spielen. Doch dieser Moment reicht aus und Daniel ist verschwunden. Am anderen Ende der Stadt kümmert sich eine andere Mutter um den von ihr entführten Jungen Leonel. Zwei Perspektiven, zwei Geschichten von zwei Frauen zwischen Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung.
Meine Meinung
Diese Geschichte hat mich unvorbereitet getroffen. Ich brauchte auch zwei Anläufe: Beim ersten Mal hat mich die eigenwillige Erzählweise abgeschreckt und ich bin nicht über die ersten zehn Seiten hinausgekommen. Aber jetzt, beim zweiten Anlauf bin ich drangeblieben und was soll ich sagen, dieser feministische Roman hat mich sprachlos gemacht.
Wenn man dieses leichtgewichtige Buch und seine wenigen Seitenzahlen betrachtet, dann kann man sich gar nicht vorstellen, dass es so eine unglaubliche Schlagkraft entwickelt. Auf diesen knapp 170 Seiten kommt so vieles zur Sprache, worüber ansonsten geschwiegen wird. Es geht um Mutterschaft; genauer: um extreme Formen der Mutterschaft. Es geht um zwei Frauen: die eine möchte keine Mutter sein, wird es dann aber trotzdem und zwar zweifach. Die andere Frau wünscht sich nichts sehnlicher als Mutter sein zu dürfen, weshalb sie auch Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um endlich ein Kind in ihren Armen halten zu können.
Mutterschaft wird hier nicht als das größte Glück auf Erden erzählt, sondern als Bürde, als Last. Mutterschaft als Aufgabe zur Selbstverwirklichung auf der einen Seite und der Selbstaufgabe auf der anderen. Die Frauen schildern in der Ich-Perspektive wie sich ihr Leben nach dem Verlust des Kindes bzw. nach der Entführung eines Kindes entwickelt oder vielmehr, wie es zusammenbricht. Die Geschichte erzählt nicht nur die Geschichten der beiden Frauen, sondern es sind viele Mikrogeschichten, die in einem großen Bild zusammengefasst werden.
Die Frauen bleiben die gesamte Geschichte über anonym: Sie sind nur Mütter, (Schwieger-)Töchter und Partnerinnen. Aber nie sie selbst. Sie sind keine selbstbestimmten, unabhängigen Individuen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Diese werden ihnen abgesprochen, von ihrer Familie und ihrer Umwelt. Die Frauen in dieser Geschichte sind wie leere Häuser, die nur dann lebendig und heimelig werden, wenn sie sich selbst für andere zu einem Zuhause machen.
Doch Mutterschaft ist nur ein facettenreicher Baustein dieses Romans. Auf diesen 170 Seiten zeigt der Finger genau dorthin, worüber die Gesellschaft zwar entsetzt ist, aber wo sie nicht gerne hinschaut: Femizid, häusliche Gewalt (partnerschaftliche und familiäre), Rassismus, Kindesentführung, Autismus, (unerfüllter) Kinderwunsch, traditionelle Rollenbilder. Es geht um das Mexiko der Gegenwart, um Kriminalität, um Armut und Reichtum, um strukturell-gesellschaftliche und migrationspolitische Probleme. Und es geht um noch so vieles mehr. Die gesamte Bandbreite lässt sich hier gar nicht aufzählen.
Die Geschichte ist ein kompliziertes Geflecht aus unterschiedlichen Perspektiven, verschobenen Zeitebenen. Gewebt aus Mustern, aus widersprüchlichen, fast tabuisierten Gefühlen, Gedanken. Ein Ensemble aus Konflikten, inneren wie äußeren.
Der Erzählstil ist zunächst gewöhnungsbedürftig: die Ereignisse werden stark berichtend bzw. nacherzählend erzählt. Das fand ich hier und da ein wenig anstrengend, aber ich wüsste auch nicht, wie man diese Geschichte sonst erzählen könnte. Schwerpunkt liegt auf der Introspektion der beiden Frauen. Sie erzählen ihre Geschichte selbst. Die Perspektiven wechseln sich dabei ungleichmäßig ab. Obwohl die Erzählweise teilweise sehr nüchtern und unbeteiligt erscheint, ist sie natürlich alles andere als das. Häufig kochen die Emotionen über und dann wiegt das, was erzählt wird schwer, sehr schwer. Ich hatte auch sehr häufig eine Gänsehaut, die sich hartnäckig hielt.
Einige Aussagen, die über das Mutter-Sein geäußert werden, sind wirklich hart. Und das sage ich als eine Frau, die sich gegen Kinder und Mutterschaft entschieden hat. Da ist selbst mir die Spucke weggeblieben. Das Ende bzw. die letzten Seiten sind so herzzerreißend, dass man gar nicht weiß, wohin mit sich selbst, seinen Gedanken und Gefühlen. Die Geschichte entwirft ein sehr negatives, pessimistisches Bild des Mutter-Seins, an dem bestimmt sehr viel Wahres dran ist. Auch kommt das Ganze in einer gewissen Endgültigkeit daher, die keinen Interpretationsspielraum zulässt.
Leider habe ich erst gesehen, dass der Roman ursprünglich auf Spanisch erschienen ist als es schon zu spät war. Denn ich hätte ihn gerne im Original gelesen. Ich denke, dass während der Übersetzung einiges von der ureigenen Kraft der sich-Erzählungen verlorenen gegangen ist (daran ist die Übersetzerin Carlotta Aulisio ganz sicher nicht schuld. Ich finde, sie hat einen tollen Job gemacht, diesen Roman mit all seiner Emotionalität und seinem Gewicht zu übersetzen). Inzwischen ist der Roman auch auf Englisch erschienen: „Empty Houses“.
Nachtrag: Ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass vor jedem Kapitel ein Gedicht bzw. ein Fragment/Auszug aus einem Gedicht der Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska (*1923 †2012) eingefügt ist. Wisława Szymborska kenne ich bisher nur vom Hören-Sagen, daher weiß ich kaum etwas über ihr poetisches Schaffen. Allerdings werden ihre Gedichte auch feministisch gelesen bzw. interpretiert. Im Zusammenspiel mit dieser Geschichte kann ich das bestätigen. Diese Gedichte bzw. die Auszüge fügen sich passgenau in das komplexe Gewebe der Geschichte ein, sind Verstärker der Gefühle und Gedanken der Protagonistinnen und sind ein Spiegel der Ereignisse in der Geschichte. Ich habe beschlossen mich in der nächsten Zeit verstärkt mit Wisława Szymborska zu beschäftigen.
Mein Fazit
Trotz seines schmalen Aussehens hat es dieser feministische Roman in sich. Brenda Navarro wirft mit ihrem Roman „Casas vacías“ einen längst überfällig gewordenen, kritischen Blick auf das Konzept der Mutterschaft und erzählt eine extreme Geschichte, die krasse Emotionen hervorruft und die Einblicke in eine andere Lebenswirklichkeit voller Verzweiflung und Ausweglosigkeit ermöglicht. Einer Lebenswirklichkeit, die zwar geografisch weit entfernt zu sein scheint, uns allen vielleicht doch viel näher ist als wir zugeben wollen. Absolute Leseempfehlung, aber nichts für schwache Nerven.