Das Loch – Simone HirthVerlag: Kremayr & Scheriau | Seiten: 272 Erscheinungsjahr: 2020 |
Kurzbeschreibung
Liebes Loch … – Henriette ist Mutter geworden, doch das Mutterglück stellt sich nicht so richtig ein. Sie ist überfordert, schlaflos und fühlt sich allein gelassen mit den Pflichten und Erwartungen, die zum Mutterdasein dazugehören und über die man sich nicht zu beschweren hat. Noch dazu fehlt ihr die Zeit zum Schreiben. Um sich nicht vollständig zu verlieren, fängt sie an, auf Einkaufszetteln, auf Altpapier und auf Servietten Briefe zu schreiben. Briefe an Jesus, an Schneewittchen, an die Natur, an den (österreichischen) Kanzler und noch an viele weitere Empfänger, denen sie Fragen zum Alltag und zu gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten stellt.
Meine Meinung
Diesem Briefroman muss man Geduld entgegenbringen: Etwas, das mir beim ersten Lektüreversuch nicht gelungen ist. Beim zweiten Leseversuch bin ich etwas anders an die Lektüre herangegangen und habe mich an die Briefe gewöhnt, auch wenn ich öfter mal an meiner Verständnisfähigkeit zweifeln musste. Man muss sich auf diesen Roman einlassen. Er empfängt einen nicht mit offenen Armen.
Die Protagonistin schreibt über ein Jahr lang Briefe. Die Briefempfänger sind genauso vielfältig wie kurios. Die Protagonistin schreibt an Jesus, an die Popikone Madonna, an einen Frosch, an Mohammed und an Buddha, an einen Felsbrocken, an Ulrike Meinhof, an Goethes Werther, an Literaturkritiker, an die Frauenministerin und an den Kanzler. Und das sind noch nicht mal alle Empfänger. Antwortbriefe gibt es keine.
Bei manchen Empfängern reicht schon die Bezeichnung (zB Frauenministerin, Kanzler, Literaturkritiker), um das ungefähre Thema des Briefs ableiten zu können und bei anderen Empfängern (zB Frosch, Murmeltier, Schneewittchen) muss man selbst ein bisschen darüber nachdenken, warum sich die Autorin gerade an sie wendet.
Beim Literaturkritiker geht es zB um die Frage darum, was Literatur (nicht) ist:
Lieber Literaturkritiker, so kocht man Grießbrei […]. Du meinst, das interessiert keinen? Genauso wenig, wie es jemanden interessiert, wenn ich vom Wäschewaschen schreibe […]? Mich interessiert es eigentlich auch nicht, weißt du. Und ich würde auch lieber über etwas wirklich Dringliches schreiben: Krieg und Frieden. Klimagipfel. Zuwanderung. Aber Grießkoch, Wäschewaschen […] sind leider im Moment die dringlicheren Themen für mich. Soll ich deshalb gar nichts schreiben? Den Mund halten? Oder Märchen erzählen, weil das besser zu Müttern passt?“ (S. 73)
Die Sorgen einer Mutter, der Milchstau und die ersten Worte des Sohnes sind nicht literaturwürdig, wenn es nach den Literaturkritikern geht. Denn die wahre, große Literatur beschäftigt sich nur mit den großen, wahren Themen der Gesellschaft wie Krieg und Klima. „FRAUENLiteratur“ – pfui! Aber mit ihrem Roman verschiebt und spielt die Autorin mit diesen konservativen und kanonisierten Grenzen.
Die Briefe an den Frosch gehören mitunter zu meinen Lieblingsbriefen. Darin schreibt Henriette über das Unsagbare, das Schambehaftete. Sie verrät es dem Frosch, denn er kann ja nur quaken und es somit niemandem verraten:
Es ist nicht vorgesehen, als Mutter unzufrieden zu sein, wenn man sich das Kind doch so sehr gewünscht hat, und auch das Aufenthaltsstipendium. Der Ehemann kocht sogar!“ (S. 168)
Der Ehemann der Protagonistin ist sowieso einer von der ganz speziellen Sorte. Er kommt in den Briefen nicht gut weg. Man merkt, wie allein gelassen sie sich von ihm fühlt. Partnerschaft wird allgemein zum Thema, bspw wenn Henriette sich mit Lotte (aus Goethes Werther) darauf einigt, dass Werther nicht gerade zum Familienvater taugt: „Absolut nicht belastbar, wankelmütig, egozentrisch“ (S. 245) – ein bisschen Schmunzeln musste ich da ja schon.
Die Isolation, die Überforderung und vor allem das Unverständnis, das ihr von vielen Seiten entgegenschlägt, der Mental Load, der Schlafmangel und vieles mehr schüren die Wut in Henriette. Die Nöte der Frauen und Mütter, von denen sie der Frauenministerin berichtet, fachen diese Wut weiter an. Diese Briefe sind der Inbegriff des Ausdrucks „Das Private ist politisch“. Die Mutterschaft wird entzaubert und die Protagonistin zeigt all die hässlichen Gesichter dieser Rolle, die die Gesellschaft gar nicht sehen möchte.
Über ihre Wut und über eine Revolution im Privaten spricht sie auch mit Ulrike Meinhof. Doch so richtig kommt ihre Wut nicht zum Ausdruck, es bleibt alles etwas flach. Es brodelt in der Protagonistin, aber irgendwie schafft sie es nicht, die Wut herauszulassen. Gedämpft wird ihre Wut wahrscheinlich von der postpartalen Depression, an der die Protagonistin zunächst unentdeckt leidet. Diese Depression ist verantwortlich für einen Großteil des Gejammers und des Selbstmitleids, die in den Briefen zum Ausdruck kommen. Diese Gefühle richtet Henriette vor allem an den Felsbrocken und an das Loch:
Liebes Loch, ich glaube daran, dass Sprache Licht ist, und dass das Lesen und Schreiben uns retten kann. […] Was sagst du dazu? Natürlich nichts. Und das ist das Widerwärtige an dir: dieses ewige altkluge Schweigen, diese totale depperte Wortlosigkeit. (S. 82)
Man kann natürlich sagen, dass es anstregend ist, von diesem Gejammer zu lesen, aber wenn man es sich genauer anschaut und zwischen den Zeilen liest, weshalb die Protagonistin „jammert“, dann relativiert sich das Ganze und erhält dann doch seine Berechtigung.
Manche dieser Briefe kann die Protagonistin nicht mal zu Ende schreiben, weil sie ständig unterbrochen wird. Dabei brauchst sie das Schreiben ganz dringend. Für sie ist es überlebenswichtig: Henriette schreibt, um bei Verstand zu bleiben; um sich nicht zu verlieren. Und wenn sie noch nicht mal einen Brief auf einem Kassenzettel zu Ende schreiben kann, weil ihr Sohn sie braucht, wie gut kann es ihr dann wirklich gehen? Dass dann so manches augenscheinlich Sinnlose, Abstruse und Kuriose in einem Brief landet, ist nicht weiter verwunderlich. Henriette versucht, sich alles von der Seele zu schreiben und dieses „Alles“ muss dann (für einen Außenstehenden) nicht immer Sinn ergeben.
Man merkt, dass die Autorin großes literarisches Know-How in den Roman einfließen lässt. Beim aufmerksamen Lesen findet man viele explizite und noch mehr subtile Verweise auf literarische Symbole, Metaphern, Motive und Werke. Ich bin ehrlich, ich habe bestimmt nicht alles verstanden und richtig zugeordnet, aber die Spurensuche und das Interpretieren hat Spaß gemacht. Nur leider macht gerade diese spezifische Literarizität den Roman etwas unzugänglich.
Mein Fazit
Dieser Briefroman ist keine leichte Kost. Man muss sich auf die Briefe einlassen, auf die Dichte der literarischen Verweise und auf das kurios und abstrus Wirkende. Einiges kommt auch sehr konstruiert daher, weshalb zwischen der Protagonistin und mir eine Distanz geblieben ist. Empathie ja, aber ich bin emotional nicht in dem Geschriebenen aufgegangen. Der Briefroman ist nichts für Zwischendurch, lohnt sich aber, wenn man ihm eine Chance gibt.
Weitere Meinungen zu “Das Loch” von Simone Hirth
- Rezension von Vereinbarkeitsblog