Das Privileg – Mary AdkinsVerlag: Rowohlt Verlag | Seiten: 432 Originalgtitel: Privilege | Übersetzerin: Marie Rahn Erschienen: 2021 |
Kurzbeschreibung: CN sexuelle Gewalt
Die Schicksale von drei jungen Frauen verschränken sich unumkehrbar miteinander als sie den charismatischen und wohlhabenden Studenten Tyler Brand in ihr Leben lassen: Stayja York ist Kellnerin im College-Cafè und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Annie Stoddard ist als Stipendiatin am Carter College und wirft Tyler vor, ihr gegenüber sexuell übergriffig geworden zu sein. Während diesen Vorwürfen nachgegangen wird, wird Bea Powers damit beauftragt im Rahmen ihres Exzellenzstudium, dem Carter’s Justice Programm, Tyler emotional-juristischen Beistand zu leisten.
Meine Meinung: Die Schattenseiten amerikanischer Colleges
Stayja, Annie und Bea: Drei Frauen, die in ihren Lebensrealitäten und -zielen nicht unterschiedlicher sein könnten, treffen aufeinander und ihre Leben verweben sich unweigerlich miteinander. Sie verfangen sich in einem Netz, gesponnen aus Rape Culture, aus der #MeToo-Bewegung, aus Armut und Reichtum (und aus den damit einhergehenden Privilegien und deren Fehlen). Sie werden Zeuginnen von der Ungerechtigkeit, die an amerikanischen Universitäten und, wenn man in einem größeren Maßstab denkt, in der Gesellschaft herrschen.
Die Autorin erzählt aus drei verschiedenen Perspektiven: Stayja York arbeitet als Kellnerin im College-Cafe der Carter Universität, einer fiktiven amerikanischen Universität. Stayja ist arm und steckt in finanziellen und familiären Schwierigkeiten. In Bezug auf Tyler verkörpert Stayja auf sehr überzeugende Weise das Sprichwort „Liebe macht blind“ – anfänglich zumindest. Leider empfand ich ihre Perspektive zunächst als Lückenfüller. Ich hatte das Gefühl, dass Stayjas Perspektive nur dazu dient, Tyler in einem „besseren“ Licht erscheinen zu lassen. Viel interessanter fand ich die Ereignisse, die abgekoppelt von Tyler geschehen: Stayja hat Schwierigkeiten sich ihre Ausbildung als Krankenschwester zu finanzieren, muss sich zeitgleich um ihre kranke Mutter kümmern und ihre Cousine im Auge behalten. Sie arbeitet hart und sie kämpft unerlässlich gegen das Vakuum an, welches von fehlenden Privilegien verursacht wird. Ich finde, dass die Bedeutung ihrer Perspektive nur hintergründig von ihrer Beziehung zu Tyler geprägt wird und ihre Lebensumstände eine viel größere Rolle spielen. Ihre Beziehung zu Tyler dient viel mehr als Vergößerungsglas auf die derzeit herrschenden sozialen Ungerechtigkeiten.
Bea Powers ist biracial, ihre verstorbene Mutter war eine renommierte Schwarze Ärztin und von ihrem Vater weiß Bea nur wenig. Die Studentin möchte Strafverteidigerin werden und nimmt an einem Exzellenz-Jura-Programm teil. Ihr fällt die Aufgabe zu, Tyler Brand während der Falluntersuchungen durch die Universitätsverwaltung emotionalen Beistand zu leisten. Ich hatte so hohe Erwartungen an Beas Figur. Ich war gespannt auf ihre Auseinandersetzung mit den Ereignissen: Ich erwartete von ihrer Zerrissenheit, ihrer Unsicherheit und von den inneren Aushandlungen zu lesen. Aber was soll ich sagen, ich wurde ziemlich enttäuscht. Ich hatte leider das Gefühl, dass ihre Beziehung zu Tyler und zu dem Fall kaum eine Rolle spielte und nur sehr oberflächlich herausgearbeitet war. Der Fokus lag viel mehr auf ihrem Privatleben: Sie wird von Zukunftsängsten geplagt, wünscht sich mehr Kontakt zu ihrem Vater und denkt viel über den Druck, den ihre Herkunft hervorruft, nach. Während all diese Probleme ihre eigene Gültigkeit haben und so natürlich Beas Privilegien unter die Lupe genommen werden, habe ich erwartet, dass ihre ethisch-moralische Verantwortung gegenüber dem Täter und dem Opfer mehr reflektiert wird – wie es sich für eine angehende Strafverteidigerin gehört. Obwohl die Autorin der Figur einen so sprechenden Nachnamen verpasst hat, versäumt sie es, dem Namen Taten folgen zu lassen. Sehr schade!
Die dritte Perspektive war die emotional aufwühlendste: Annie Stoddard ist mit einem Stipendium am Carter und wird nach einer Party von Tyler vergewaltigt. Die Autorin schildert sehr genau was zwischen Tyler und ihr passiert. Wem solch eindrückliche Beschreibungen zu viel sind, sollte die entsprechenden Seiten unbedingt überspringen. Dass die Autorin für Annie als einzige die Ich-Perspektive gewählt hat, ist ein kluger erzählerischer Schachzug. Man muss sich Annies Erleben, Fühlen und Denken stellen. Man setzt sich den Zweifeln, der Scham, dem Schmerz und der Wut direkt aus, aber man liest auch von Stärke, Widerstand und Wachstum. Trotz perspektivischer Nähe und der Wucht der Ereignisse empfand ich Annies Figur gelegentlich als sehr unzugänglich und distanziert. Manchmal hatte ich das Gefühl als hätte die Autorin Annie lediglich Worte oder auch Phrasen in den Mund gelegt, ohne die dazugehörige Überzeugung. Als würde Annie nur das denken und sagen, was in einer solchen Situation zu erwarten wäre.
Ist die Art und Weise wie die College-Verwaltung mit den Vergewaltigungsvorwürfen umgeht realistisch? Gute Frage. In einer anderen Rezension auf Goodreads habe ich gelesen, dass der Zeitraum zu kurz bemessen ist. Das habe ich dann direkt nochmal nachgelesen: Der sexuelle Übergriff findet Anfang September statt und die Fallentscheidung liegt schon Ende September vor. Ob das in der Realität so hinkommen könnte? Ich weiß, dass es sich bei solchen Untersuchungen um komplizierte, bürokratische und langwierige Prozesse handelt. Auf der Seite der University of California steht zB, dass solche Untersuchungen, abhängig von den Tatbeständen, zwischen 60 und 90 Tagen dauern können (FAQ: Investigation and Adjudication Model for Cases Involving Students). Also kann die Zeitspanne im Roman als unwahrscheinlich angesehen werden. Es ist vorstellbar, dass Tylers Privilegien (weiß, reich und beliebt) den Prozess beschleunigen und lenken? Und es ist auch verständlich, dass die Zeiträume aus erzählerischen Gründen verkürzt wurden. Insgesamt kann ich aber sagen, dass mich das allgemeine Drumherum und auch der Ausgang der Untersuchungen nicht überrascht haben.
Die Ereignisse werden nicht chronologisch erzählt: Beim Erzählen wird hier und da etwas ausgespart, Zeiträume werden zusammengerafft und die Autorin arbeitet mit zeitlichen Sprüngen. Die verschiedenen Perspektiven in Kombination mit den zeitlichen Sprüngen verzerren das Erzählte und stiften hinsichtlich der zeitlichen Abläufe Verwirrung. Man verliert das Gefühl für die Geschichte und für die Figuren. Besonders auf das Ende des Romans wirkte sich dies negativ aus.
Doch auch darüber hinaus hat mir das Ende Bauchschmerzen bereitet: Das Ende ist unglaublich dramatisch, an Eskalation nicht zu überbieten und leider in sich nicht schlüssig. Es kommen viel zu viele Zufälle zusammen, es gibt zu viele Ungereimtheiten und zeitlichen Leerlauf. Fragen wie „Wann und wie ist das denn passiert?“ oder „Hä, wie geht das denn, die waren doch eben noch da und dort?“ begleiteten mich auf den letzten Seiten der Lektüre.
Mein Fazit: Check Your Privileges!
„Das Privileg“ mag vielleicht nicht das beste Buch zum Thema Rape Culture an amerikanischen Universität sein, aber es ist auch nicht das schlechteste (besser als „Der Club“ von Takis Würger ist es allemal). Obwohl es erzählerisch an einigen Stellen hapert und viel Potenzial verschenkt wurde, fand ich das Buch dennoch lesenswert.
Weitere Meinungen zu “Das Privileg” von Mary Adkins
- Rezension von Zeilenfluch
- Rezension von SL Leselust
- Rezension von Lesendes Ferdervieh