Der vergessliche Riese – David WagnerVerlag: Rowohlt | Seiten: 272 Erschienen: 2019 |
Kurzbeschreibung
Vater und Sohn tauschen die Rollen: Aufgrund seiner Demenz-Erkrankung ist Davids Vater wieder zum Kind geworden. David kümmert sich um seinen Vater und hilft ihm dabei, nicht nur sein Leben zu organisieren, sondern viel wichtiger, sich zu erinnern.
Meine Meinung
Bei einem Kennenlernspiel wurde ich mal gefragt, was ich aus meinem brennenden Haus retten würde. Ich habe damals geantwortet, dass ich die Kiste mit Erinnerungen (Ansichtskarten, Fotos, Kinoeintrittskarten usw.) retten würde. Meine Erinnerungen sind für mich mit das Wichtigste im Leben. Sie machen mich aus, zeigen mir wer ich bin, zeigen den Weg, den ich bereits gegangen bin und den, der noch vor mir liegt und sie spenden mir Trost. Natürlich sind die Erinnerungen an all das auch irgendwo in meinem Kopf abgespeichert, aber nicht immer kann ich darauf zugreifen. Dazu kommt noch, dass man gerade die Kleinigkeiten, auf die es oftmals ankommt, vergisst. Und wenn ich dann diese physischen Erinnerungsstücke zur Hand nehme und mich wieder erinnere, dann tut die Erkenntnis, vergessen zu haben, unglaublich weh. Deshalb sind mir diese physischen Erinnerungsstücke so wichtig.
Davids Vaters passiert genau das: er vergisst und er hat keine Erinnerungskiste. Er hat Demenz und vergisst: die Namen seiner Kinder, seiner zwei Ehefrauen, wichtige Stationen in seinem Leben. Über circa 4 Jahre hinweg begleitet der Leser Vater und Sohn in diesem schmerzhaften Prozess des (Sich-)Vergessens und (Sich-)Erinnerns. Auf knapp 260 Seiten durchläuft man ein ganzes Leben und das geht nicht spurlos an einem vorbei. Man lernt Orte, Menschen und Begebenheiten kennen, die ein ganzes Leben ausmachen. Wird Zeuge von sehr privaten und persönlichen Gesprächen und Gefühlen, die sich in Endlosschleife zu wiederholen scheinen. Der Sohn David wird zur Erinnerungskiste seines Vaters.
Der Roman ist fast ausschließlich in Dialogform geschrieben und man muss beim Lesen sehr viel Geduld mkitbringen. Dabei ist das wahrscheinlich nur ein Bruchteil der Geduld, die man tatsächlich bei der Pflege eines Demenzkranken aufbringen muss. Wenn man keine Lust hat, zum x-ten Mal von dem kaputten VW-Motor zu lesen, dann klappt man das Buch eben zu, legt es zur Seite und nimmt ein anderes zur Hand; aber das kann man mit einer Person nicht machen. Diese Dynamiken veranschaulicht der Roman in der Figur des Sohnes auf sanfte, aber bestimmte Art. Die Dialoge schaffen eine intensive Unmittelbarkeit: man ist hautnah dabei, während Vater und Sohn auf dem Bonner Chinaschiff essen oder im Auto sitzen auf dem Weg zu einer Beerdigung. Man spürt auch die Leere, die von den schwindenden Erinnerungen erzeugt wird. „Der vergessliche Riese“ ist eine Art Erinnerungsbuch, wie es der Sohn dem Vater vorschlägt zu schreiben. Der Sohn hilft dem Vater dabei sich zu erinnern, so wie der Vater einst dem Sohn dabei half zu lernen und sich im Leben zurecht zu finden. Es sind nicht sehr viele Erinnerungen, aber es sind die wichtigsten Erinnerungen, würde ich fast sagen. Und diese wiederholen sich immer wieder, wie ein Mantra. Sie sind ein Rettungsseil, das den Vater davor bewahrt in die Leere der verschwundenen Erinnerungen zu stürzen und verloren zu gehen.
Die im Roman geschilderte Vater-Sohn-Beziehung hat mich sehr berührt. Sie ist nicht perfekt, sie ist vorbelastet und nicht einfach. Doch der Sohn kümmert sich aufopferungsvoll um seinen Vater, er ist gern bei ihm. Man spürt die Liebe zwischen den beiden Männern. Man spürt, dass sie eine Familie sind, trotz der zurückliegenden Differenzen. Der Sohn kümmert sich um seinen Vater, genauso wie sich der Vater früher um das Kind David gekümmert hat, wohlwissend, dass sie sich nicht immer vertragen würden. Das macht Familie aus und davon zu lesen, hat mein Herz gewärmt.
Der Roman handelt von Vielem: von Verlust, von Vergänglichkeit, von Veränderung, von der Bedeutung der Zeit; aber auch von Liebe und Zusammenhalt. Der Roman spannt verschiedene zeitliche Dimensionen auf. Es gibt einmal die unmittelbaren Ereignisse. Dass und wie viel Zeit vergeht, merkt man vor allem daran, dass Verwandte sterben oder dass die Enkelin erwachsen wird, dass der Vater gerade erst Geschehenes sofort wieder vergisst. Dann gibt es eine Dimension, die einen noch viel größeren Zeitraum bzw. Generationen umspannt. Diese wird durch einige geschickte Kontraste aufgebaut: In der Vergangenheit nutzte man noch einen Kompass, heute ein Navi. Damals lief man zu Fuß von Ungarn nach Deutschland, heute fährt man mit dem SUV zum Bäcker. Die zeitlichen Kontraste sind gleichzeitig auch gesellschaftliche, und sie zeigen, dass die Zeit nicht still steht, genauso wenig wie der Mensch. Der Roman schildert dies Unabwendbarkeit unaufdringlich, sanft, aber bestimmt.
Die Lektüre hat vor allem eines hinterlassen: eine tiefe Trauer. Mir war nicht zum Heulen, aber mein Herz war tränen- und gefühlsschwer. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie man mit einem solchen Verlust umgeht. Wie es sich anfühlt, Erinnerungen zu verlieren; wie es sich anfühlt, vergessen zu werden. Auf sanfte, aber bestimmte Weise zeigt der Roman, was im Leben wichtig ist. Und ja, vielleicht ist die Erinnerungskiste gar nicht so wichtig, sondern viel mehr die Menschen, mit denen man diese Erinnerungen teilt: Eltern, Geschwister, Freunde. Denn sie können einen jederzeit bei der Hand nehmen und für einen da sein. Zeit ist das Kostbarste, was wir zur Verfügung haben – wir sollten sie nicht verschwenden.
Mein Fazit
„Der vergessliche Riese“ von David Wagner ist ein ganz besonderes Buch. Es strahlt Ruhe und Kraft aus, vereinigt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in harmonisches Ganzes. Der Roman hinterfragt die Bedeutung von Zeit, von Familie und von Verlust, immer wieder Verlust. Für die Lektüre dieses Romans sollte man Geduld, Durchhaltevermögen und Mut mitbringen. Denn sich diesen Fragen zu stellen ist nicht einfach.