Die kranke Frau – Elinor CleghornVerlag: Kiwi Verlag | Seiten: 496 Originaltitel: Unwell Women | Übersetzer*innen: Anne Emmert, Judith Elze Erscheinungsjahr: 2022 |
Kurzbeschreibung
Patriarchale Mythen prägen die westliche Medizin noch heute: Elinor Cleghorn gehört zu den kranken Frauen über die sie in ihrem medizingeschichtlichen Sachbuch schreibt. Auch sie musste sich durch diesen Mythen-Dschungel schlagen, um eine Diagnose zu erhalten. Elinor Cleghorn begibt sich auf die Spuren der sexistischen Medizin: Von der „wandelnden Gebärmutter“, über die hysterische Frau, zu Hormonen, Menstruation bis hin zur Menopause zeigt sie, wie Frauen durch die Jahrhunderte unter dieser frauenfeindlichen Medizin gelitten haben und es noch heute tun.
Meine Meinung
Dass es in der Medizin nicht gerade gleichberechtigt zugeht, war für mich keine neue Erkenntnis. Zu dem Thema fand ich zB das Sachbuch „Invisible Women“ von Caroline Criado-Perez sehr aufschlussreich. Das steht sogar in der Liste der weiterführenden Literatur von Cleghorns „Die kranke Frau“. Dennoch war mir natürlich der Umfang von Misogynie, Sexismus und Rassismus in der Medizin und Medizingeschichte nicht in dem Ausmaß bewusst, wie ihn die Autorin schildert. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass die Anfänge der Verhütung sehr stark von Rassismus und Eugenik geprägt waren.
„Die kranke Frau“ weist eine hohe Informationsdichte auf: Das Buch ist in drei Teile geteilt: „Vom antiken Griechenland bis ins 19. Jahrhundert“, „Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre“ und „Von 1945 bis in die Gegenwart“. Mehr oder weniger chronologisch arbeitet sich die Autorin durch die Medizingeschichte und geht mal auf sehr spezifische, mal auf eher allgemeine Vorkommnisse, Traditionen und Philosophien der Medizingeschichte ein. Um 1681 gibt es einen sehr großen zeitlichen Sprung und die Autorin nimmt den Faden erst 1789 wieder auf. Dieser zeitliche Sprung in den Ausführungen hat mich sehr verwirrt, weil die Autorin auch später im Buch nicht nochmal auf diese fehlenden 100 Jahre eingeht (außer ich habe bei all den Jahreszahlen, die sich auf den Seiten häufen dann doch etwas verpasst?). Man kommt also nicht umhin sich zu fragen, ob denn in diesen 100 Jahren nichts von Belang geschehen ist?
In den Ausführungen kommen unzählige Namen von Mediziner*innen, Patient*innen und sehr viele Datumsangaben vor, dass es mir nach einer Weile wirklich schwer fiel, die einzelnen Ereignisse klar auseinanderzuhalten. Über die Seiten und Kapitel hinweg (besonders in Teil 1 und 2) sind diese Namen und Daten immer mehr zu einem Klumpen verschmolzen. Das hat die Lektüre ganz schön unübersichtlich, trocken und langwierig werden lassen. Dem Blurb vom Telegraph „The definition of unputdownable“ kann ich da nicht wirklich zustimmen. Ich musste mich manchmal wirklich überwinden, mich weiter durch diesen Berg von Namen und Daten zu wühlen. Erst gegen Ende, ich würde sagen ab Teil 3, nimmt diese Last etwas ab und man kommt wieder besser mit.
Schon von Beginn an war ich überrascht, dass die Autorin keine Ärztin oder Medizinhistorikerin ist, sondern einen PhD in Humanities and Cultural Studies besitzt. Ich hatte eher das Gefühl eine kulturell-ideengeschichtliche Medizinhistorie zu lesen, dabei hatte ich eine stärker medizinisch-geprägte Perspektive erwartet.
Man merkt, dass die Autorin mit Herzblut dabei ist, zumal sie selbst an Lupus erkrankt ist und durch ihre Leidensgeschichte zu diesen kranken Frauen gehört. Und in der Tat, es steckt sehr viel Recherchearbeit in diesem Buch. Dennoch habe ich mich hier und da an der Aufbereitung gestört. Zum Beispiel schreibt sie im Fazit: „a blood test to diagnose endometriosis is very recently being developed” (S. 414). Dazu gibt sie allerdings keine Quelle an, weshalb man hier selbst recherchieren muss, was ich in diesem Kontext einfach unzureichend finde.
Wie bereits erwähnt, zählt die Autorin selbst zu den kranken Frauen, deren Geschichten sie erzählt. Ihre eigene Leidensgeschichte mit der Autoimmunerkrankung Lupus schildert sie ebenfalls und lässt dabei nicht aus, wie sie vom sexistischen und paternalistischen System betroffen ist. Dieses Kapitel ist mMn ein wenig zu kurz geraten und hätte noch ein wenig ausführlicher sein können. Es kam mir im Vergleich zum Rest eher wie eine Fußnote vor.
Das Potenzial der Bilder, die sich genau in der Mitte des Buches befinden, wurde nicht vollkommen ausgeschöpft. Sie kamen ein wenig zusammenhangslos daher: Denn im Fließtext finden sich keine verweise auf die einzelnen Bilder. Sie werden zwar von kurzen, erläuternden Ausführungen begleitet, aber in der ganzen Informationsflut gehen sie leider unter.
Die Perspektive, die die Autorin bei den Ausführungen einnimmt, ist im Großen und Ganzen die einer weißen, mittelalten cis Frau aus der Mittelschicht. Zunächst blickt die Autorin auf mehr oder weniger ganz Europa, bis sie die Perspektive schließlich auf die USA und das UK beschränkt. Sie hebt hervor, dass auch Rassismus eine schwerwiegende Rolle in der Medizingeschichte und -gegenwart spielt(e). Sie beschreibt die Erfahrungen und Misshandlungen, die Schwarze Frauen erfahren mussten und berichtet auch vom Einsatz Schwarzer Aktivistinnen. Dennoch bleibt die Perspektive überwiegend weiß.
An das Fazit schließen sich, neben der Danksagung, eine Literaturliste mit weiterführender Literatur, ein nach Kapiteln aufgeschlüsseltes Quellenverzeichnis und ein ausführlicher Index an. Ein wissenschaftlicher Apparat mit dem man durchaus etwas anfangen kann.
Mein Fazit
Die Gesundheit der Frau ist von vielen Mythen umrankt, die aus Misogynie, Sexismus und Rassismus gespeist werden und auf dem Bodes des Patriarchats in voller Blüte stehen. Noch heute wird die medizinische Versorgung von Frauen (bzw Personen mit Uterus) davon beeinflusst, beschränkt und behindert. „Die kranke Frau” von Elinor Cleghorn ist ein umfängliches Sachbuch, das diese uralten, aber hartnäckigen Mythen demontiert. Das Sachbuch wartet sowohl mit Stärken und Schwächen auf, doch würde ich sagen, dass sein Nutzen um einiges überwiegt. Das Sachbuch ist ein klares Plädoyer für die Gendermedizin und eine deutliche Antwort auf die Frage: Wozu braucht man Feminismus?
Weitere Meinungen zu “Die kranke Frau” von Elinor Cleghorn
- Rezension von Literatukritik