Dunkelblaues Buch auf dem mit einem weißen Schriftzug auf Englisch der Titel "The Midnight Library" und der Vorname des Autors steht "Matt". Auf dem Cover ist ein abstraktes gebäude zu erkennen. Das Buch liegt auf einem weißen, flauschigen Hintergrund und wird im unteren Teil von einer dunkelgrauen Decke verdeckt. Zur rechten Seiten stehen vier grüne Bücher, komplett ohne Beschriftung.

[Rezension] Die Mitternachtsbibliothek

Die Mitternachtsbibliothek – Matt Haig

Dunkelblaues Buch auf dem mit einem weißen Schriftzug auf Englisch der Titel

Verlag: Droemer Knaur | Seiten: 320
Originaltitel: The Midnight Library | Übersetzerin: Sabine Hübner
Erschienen: 2021

Kurzbeschreibung
Nora Seeds Leben ist aus allen Fugen geraten; sie ertrinkt in Selbstmitleid und Reue. Als der Tod ihres Katers das Fass zum Überlaufen bringt, sieht sie nur noch einen Ausweg: Ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Während sie mit dem Tod ringt, findet sie sich plötzlich in der Mitternachtsbibliothek wieder. Ein Ort voller Möglichkeiten, voller Neuanfänge und Antworten auf die Frage „Was wäre wenn…?“


Meine Meinung
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es auf jede Frage in der Welt ein Buch gibt, welches die Antwort kennt. Und in diesem Roman gibt es gleich eine ganze Bibliothek, die Antworten auf die ewige Frage „Was wäre wenn?“ geben kann. In Noras Mitternachtsbibliothek reihen sich grüne Bücher in allen möglichen Formen und Schattierungen aneinander, die jedes für sich ein alternatives Leben enthalten. Während Nora zwischen Leben und Tod schwebt, erhält sie in dieser Zwischenwelt das, was sie sich immer gewünscht hat: Antworten auf die Frage „Was wäre wenn…?“. Was wäre, wenn sie sich nicht von ihrer großen Liebe getrennt hätte? Was wäre, wenn sie ihren großen Traum nicht aufgegeben hätte? Was wäre, wenn der Kontakt zu ihrem Bruder niemals abgerissen wäre? Was wäre wenn …?

Wie oft habe ich mir diese Frage schon gestellt? Bei jedem Umzug, bei jedem Schulwechsel, bei jedem Menschen, den ich in mein Leben gelassen oder den ich herausgeworfen habe, bei jeder Entscheidung, die sich im Nachhinein als „falsch“ herausgestellt hat. Was würde ich tun, wenn ich die Möglichkeit hätte, all die Was-wäre-wenns zu erleben und mich für eines dieser alternativen Leben entscheiden könnte? Genau dieser Frage geht der Autor, dem Depressionen und Suizidgedanken nicht fremd sind, mit seiner Figur Nora Seed nach.

Nora Seed ist von Reue und Verzweiflung zerfressen. Sie hat alles verloren und hält ihr Leben nicht mehr für lebens- und sich selbst nicht mehr für liebenswert. Reue ist ein kurzes Wort, aber dahinter versteckt sich eine schwerwiegende Bedeutung. Die Geschichte stellt das Konzept der Reue und des Bedauerns in Frage, nimmt deren Schrecken und macht Mut. Der Roman zeigt, dass der Schatten, der von diesen Worten geworfen wird, meist viel größer, einschüchternder und düsterer erscheint als das Wort an sich eigentlich ist. Es ist eine wunderschöne, kraftvolle Geschichte mit einer tiefgreifenden Botschaft. Es ist eine Geschichte, in der ich mich aufgehoben und geborgen fühlte; und das nicht nur, weil sie in einer Bibliothek spielt.

Das Motiv einer Welt zwischen Leben und Tod, hier der Mitternachtsbibliothek, einem Ort, der einen für eine begrenzte Zeit vor der Schwere des Lebens und der Endgültigkeit des Todes schützt, ist eine tröstendes Bild. In Noras Mitternachtsbibliothek sind alle Bücher grün. Für mich spricht die Wahl dieser Farbe Bände. Steht die Farbe Grün nicht für Konzepte wie Glück, Hoffnung, Leben und Zufriedenheit? Alles Dinge, nach denen Nora verzweifelt sucht. So könnte man jedes alternative Leben als ein Versprechen auf eben jene Dinge deuten.

Auch die Gestaltung der alternativen Leben, die Nora sich probeweiser überzieht, hat mich absolut überzeugt. Der Autor findet ein authentisches Gleichgewicht zwischen Liebe zum Detail und einer gewissen Vagheit. Dieses Spiel mit Abstraktion und Realität ist ihm wirklich sehr gut gelungen. Damit kurbelt der Autor die Fantasie des Lesers und der Leserin an und fordert ihn/sie dazu heraus, die unendlichen Möglichkeiten und Variationen im Kopf weiterzuspinnen. Auch übertreibt er es nicht mit der Anzahl der geschilderten Leben. Es entsteht nicht der Eindruck einer gewissen Musterhaftigkeit und Eintönigkeit. Es sind aber auch nicht zu wenige, dass man ihm vorwerfen könnte, ihm wären die Ideen ausgegangen. Jedes Leben strotzt nur vor Individualität und Kreativität des Autors.

Anfangs hatte ich einige Schwierigkeiten, mich auf Nora einzulassen. Mein erster Eindruck von ihr war kein sonderlich positiver. Zu Beginn hatte ich das Gefühl, dass sie sich zu sehr in Selbstmitleid suhlt. Fast kam sie mir wie ein kleines weinerliches Kind vor, das seinen Willen nicht bekommt. Ein bisschen bockig, dickköpfig und unzugänglich für Hilfe und Rat. Ich empfand durchaus Empathie für sie und wollte sie in den Arm nehmen und ihr helfen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Nach und nach, mit jedem ausprobierten Leben ist Nora aufgetaut und ich mit ihr. Und man merkt, dass sie mit jedem Leben, in welches sie schlüpft, lernt und über sich hinauswächst. Ihr wird leichter zumute und so wird sie zugänglicher. Mit jedem Leben lernt man Nora, ihre Lebensentscheidungen und darüber auch sich selbst ein bisschen besser kennen.

Mit seiner Geschichte fragt der Autor danach, ob es das „ideale“ oder „perfekte“ Leben überhaupt gibt. Und er stellt auch das Konzept von „richtigen“ und „falschen“ Lebensentscheidungen in Frage. Doch er gibt keine expliziten Antworten; diese muss sich der Leser/die Leserin selbst erarbeiten, indem er/sie in einen introspektiven Dialog mit sich selbst tritt. Es ist eine Geschichte, die das Herz und den Verstand gleichermaßen in Verantwortung zieht. Dem Autor gelingt es, über die Frage nach dem Sinn des Lebens mit einer gewissen Mischung aus Ernsthaftigkeit, Leichtigkeit und Empathie zu schreiben. Er schreibt spielerisch, hier und da mit einem zwinkernden Auge und einem verschmitzten Lächeln, unterschätzt aber nicht die Gefühlslast, die diesem Thema eigen ist. Er findet das richtige Maß zwischen einer seichten Erzählweise und Glückskeks-Weisheiten auf der einen und einem tiefgründigen Erzählen und philosophischen Gedankengängen auf der anderen Seite.

Das Ende hat mich nicht enttäuscht, aber auch nicht sonderlich überrascht. Aber es ist gut so wie es ist. Ein anderer Ausgang wäre höchst unglaubwürdig gewesen. Matt Haig führt den Leser/die Leserin durch die „Hölle“, aber auch wieder heraus.


Mein Fazit
„Die Mitternachtsbibliothek“ war eines meiner wenigen Highlights im Jahr 2020. Ein Glanzpunkt, ein Hoffnungsschimmer in diesem düsteren Jahr, der einem zu verstehen gibt, dass alles im Leben früher oder später einen Sinn ergibt. Absolute Leseempfehlung!


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