Ellis – Selene MarianiVerlag: Wallstein Verlag | Seiten: 147 Erschienen: 2022 |
Kurzbeschreibung
Ellis ist noch ein kleines Kind als sie mit ihrer Mutter von Italien nach Deutschland zieht. Die Eingewöhnung fällt Ellis nicht leicht. Das ändert sich jedoch als sie Grace kennenlernt, ihre beste Freundin. Doch die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen zerbricht und Jahre später treffen sich die beiden als junge Frauen wieder. Ellis lädt Grace ein, mit ihr nach Italien zu reisen, wo sie jeden Sommer ihre Großeltern besucht. Doch der Sommer unter der italienischen Sonne lässt alte Konflikte und vergangene Gefühle wieder aufkochen…
Meine Meinung
Dieser Roman hat mich über ein Wochenende hinweg begleitet und hat mich in meine eigene Kindheit, die ich zum Teil in Italien verbracht habe, zurückversetzt. Auch mir ist damals die Rückkehr nicht einfach gefallen, erst als ich von einer deutschen Klasse in eine italienisch-deutsche Klasse wechselte, fand ich langsam meinen Platz. Denn dort war ich mit meiner Beziehung zu diesem besonderen Land nicht allein. Aber es sollte trotzdem viele Jahre dauern, bis ich mich von meiner übersteigerten Italien-Liebe befreien konnte. Es ist also wenig überraschend, dass mich die Prämisse dieses Romans so nachdenklich gestimmt hat, vor allem weil die Protagonistin sich in anderer Hinsicht doch sehr von mir unterscheidet. Aber diese kleine Schnittmenge reichte aus, dass ich erstmal kein anderes Buch zur Hand nehmen konnte. Meine Gedankenwelt war noch so stark mit der der Protagonistin verwachsen…
Diese krasse Verbundenheit mit der Protagonistin hat mich ziemlich verwundert, denn insgesamt war es ein Erzählen auf Abstand. Die Protagonistin erweckte dadurch einen sehr distanzierten und verschlossenen Eindruck. Aber da ist noch mehr: Ellis macht sich klein, sie ist auf den Seiten fast unsichtbar und bleibt auf Abstand: gegenüber sich selbst, ihrer Familie und ihrer alten-neuen besten Freundin. Diese Distanz wirkte sich auch auf die Erzählung aus: Es kam mir so vor als würde Ellis nur das Nötigste von sich selbst, ihrer Gedanken- und Gefühlswelt preisgeben, all das verpackt in wunderbar zarte Sprachspielereien. Es war als würde sie noch absichtlich Dinge zurückhalten, damit der*die Leser*in nicht allzu nah herankommt. Das Problem daran war, dass man nicht alles, was sie erzählt, vollständig durchdringen konnte.
Distanz schaffen auch die Zeitsprünge, in welchen die Protagonistin abwechselnd von ihrer Kindheit und Jugend und ihrer erwachsenen Gegenwart erzählt. Das episodische, auf assoziativen Verbindungen beruhende Erzählen weist viele Wiederholungen auf – aber auch Lücken, die man als Leser*in füllen muss, was aber an vielen Stellen sehr schwierig war. Man hat bei der Lektüre das ständige Gefühl eines Mangels. Ein Mangel, den die Protagonistin auch auf vielen Ebenen spürt.
In den Rückblicken geht es um Ellis Kindheit und frühe Jugend. Der*Die Leser*in erfährt vieles über ihr Leben in Italien, noch mehr über ihr Leben in Deutschland. Die Autorin verzichtet auf eine übersteigerte Italien-Darstellung. Ich hatte mich genau davor gefürchtet, doch da ist keine rosarote Brille, kein Überlegenheitsgefühl. Das hat mich friedlich gestimmt.
Man erfährt auch viel über die Schwierigkeiten mit denen sie als Deutsch-Italienerin zu kämpfen hat. Diese Schwierigkeiten spiegeln sich in Themen wie der Interkulturalität, der Identitätsfindung und der Frage nach einem Zugehörigkeitsgefühl (sowohl hinsichtlich ihrer nationalen/emotionalen Nationalität wie auch ihrer sexuellen Identität) wider. Auch auf zwischenmenschlicher Ebene muss die Protagonistin viele Kämpfe führen: Ein Strudel aus Freundschaft, Liebe und Mobbing wirbelt das Aufwachsen der Protagonistin stark durcheinander. Eine wichtige Rolle spielt in all diesem Ellis Beziehung zu ihrer besten Freundin, Grace. Mit Grace verbindet Ellis eine Freundschaft, die ihr in der Vergangenheit sehr viel Kummer bereitet hat und auch in der Gegenwart noch nachhängt und es gelingt ihr kaum diese abzuschütteln. Auch mit der Trennung ihrer Eltern ist kein leichtes Zurechtkommen und sowieso darf das Familien-Thema in einem italienisch-deutschen Roman nicht fehlen. Man merkt also, dass auf diesen knappen 150 Seiten sehr viel abverhandelt wird, nach Innen wie nach Außen hin.
Die Erzählstimme ist unaufdringlich und unaufgeregt, in sich gekehrt und gefühlvoll – und diese Mischung passt sehr gut zum übergreifenden Thema: Reflexion über die eigene Identität und die Vorstellungen vom bzw. Erwartungen an das Leben. Beim episodischen Erzählen lag der Fokus viel mehr auf dem, was nicht gesagt wurde, auf dem, wofür es keine Worte gibt. Über viele Themen wird eher verdeckt und unterschwellig erzählt. Den Erfahrungen und Gedanken der Protagonistin hingen eine gewissen Universalität an und erschienen doch so extrem persönlich und authentisch. Diese Balance ist der Autorin wirklich sehr gut gelungen.
Nostalgie war bei dieser Lektüre ein ständiger Begleiter für mich. Nostalgie nach dieser unbeschwerten Italien-Kindheit, dem Meer, der Sonne und nach meiner besten Freundin. Diese Mischung aus Nähe und Distanz zum Erzählten und zur Protagonistin haben bei mir für Gänsehautgefühl gesorgt. Und unter anderem deswegen gehört der Roman zu meinen Lese-Highlights des Jahres.
Mein Fazit
Auf 150 Seiten nimmt die Autorin ihre Leser*innen mit auf eine Reise in ein Dazwischen: Zwischen Deutschland und Italien, zwischen zwei unterschiedliche Kulturen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Freundschaft und Begehren, zwischen verschiedene Identitäten und Erwartungen. Der*Die Leser*in findet sich mittendrin wieder und wird unweigerlich mitgerissen. Eine gleichzeitig ruhige und aufwühlende Lektüre, die ich nur empfehlen kann.
Weitere Meinungen zu “Ellis” von Selene Mariani
- Rezension von The Little Queer Review