Femina. A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It – Janina RamirezVerlag: Hanover Square Press | Seiten: 464 Erscheinungsjahr: 2023 |
Kurzbeschreibung
Das Mittelalter hat keinen guten Ruf und doch ist die Faszination groß: Eine düstere Zeit mit epischen Kämpfen, legendären Kriegern und mächtigen Königen. Es war eine Zeit, in der Frauen nichts zu sagen hatten, von Männern unterdrückt wurden und nur als Schachfiguren auf dem Schachbrett der Weltgeschichte dienten. Oder doch nicht? Diesem Vorurteil setzt die Oxford-Historikerin Janina Ramirez ein Ende, indem sie zeigt wie und warum zahlreiche mächtige und einflussreiche Frauen aus der Geschichtsschreibung gestrichen wurden.
Meine Meinung
„Nur 0,5 Prozent der aufgezeichneten 3.500-jährigen Menschheitsgeschichte handelt von Frauen. Das entspricht 17,5 Jahre“, schreibt die Autorin Kristina Lunz in ihrem Essay im Sammelband „Unlearn Patriarchy (Bd. 1)“ (S. 218). Gegen dieses „Ungleichgewicht“ – dieses Wort klingt wie Hohn in meinen Ohren – oder eher gegen diese Ungerechtigkeit und Diskriminerung setzt Dr. Janina Ramirez, Kunst- und Kulturhistorikerin der University of Oxford, also einer Expertin auf diesem Gebiet, mit ihrem Sachbuch „Femina“ ein Zeichen.
In neun Kapiteln widmet sich die Autorin verschiedenen mehr oder weniger bekannten historischen Frauenfiguren, z.B. Æthelflæd, der Lady of Mercia (die ich bisher nur aus der Netflix-Serie „The Last Kingdom“ kannte), Hildegard von Bingen, König(in) Hedwig von Polen und Margery Kempe, einer Mystikerin, die ihre eigene Biographie schreibt bzw. schreiben lässt und deswegen u.a. als selbstbezogen geschimpft wird.
Doch im Zentrum ihrer Ausführungen stehen nicht nur die Personen an sich, sondern auch Artefakte, die das Leben und Wirken von Frauen durch die Geschichte hindurch bezeugen: Schmuckstücke, die Rückschlüsse auf die Rolle von Frauen in der Gesellschaft zulassen oder andere Kunstgegenstände, wie der Teppich von Bayeux. Die Autorin beschreibt die Arbeit an diesem Teppich, geht dabei auf die Arberter*innen sowie auf die darauf abgebildeten Frauen ein (bei 68,38 Metern sind gerade einmal drei Frauen zu finden).
Die Art und Weise wie die Autorin die Kapitel strukturiert fand ich sehr bemerkenswert und eingängig: Jedes Kapitel eröffnet mit einem archäologischen Fund, der neue Zugänge zur Geschichte ermöglicht und anhand dessen die Autorin auch zeigt, wie eng Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft sind. Anhand der Funde geht die Autorin auf historische Fakten ein, die mit diesen Funden zusammenhängen und auch auf Personen, denen der Fund zugeordnet werden kann. Sie beleuchtet dabei die Rolle der Frau, legt den Fokus mal auf bestimmte Frauenfiguren und mal auf bestimmte Bevölkerungsgruppen und setzt diese immer in Relation zu den „great men“ und dem sehr bewegten Weltgeschehen. Bei der Betrachtung der Fundstücke (Kunstgegenständen, Schmuck, Gemälde, Grabbeigaben oder Tapisserien) kombiniert die Autorin Fakten aus schriftlichen historischen Quellen mit einem gesunden Maß an Spekulationen. Sie weist auf Symbole und Bedeutungen hin, die einem als Laie verborgen bleiben. Ich würde gerne mal mit der Autorin zusammen durch ein Museum schweifen und mir von ihr die dort ausgestellten Schmuckstücke erklären lassen. Wie viel ich da lernen würde!
Die historischen Verflechtungen waren nicht immer einfach zu greifen, aber insgesamt gelingt es der Autorin die Fakten auf übersichtliche Art zu schildern und dem*der Leser*in einen roten Faden an die Hand zu geben. Es ist keine leichte Lektüre für Zwischendurch, sondern man muss schon mitdenken. Trotz der vielen Namen und Daten, werden die Ausführungen weder langatmig noch verwirrend. Fotografien lockern die Textdichte ein wenig auf.
Ich fand es interessant, die Frauen, die ich bisher nur aus der Popkultur kannte, abseits dieser fiktionale Hintergründe kennenzulernen. Bei vielen der vorgestellten Frauen kommt man auch nicht umhin ihren frühen Tod zu beklagen, wie zB bei Hedwig aus Polen – was hätte sie noch alles erreichen können, wenn sie nicht im Wochenbett verstorben wäre? Auch die Tatsache, dass Frauen im Mittelalter im kirchlichen Kontexten viel einflussreicher waren als heute, finde ich sehr überraschend. In diesem Zusammenhang darf natürlich Hildegard von Bingen nicht fehlen, die von vielen als „Feminist Icon“ verstanden wird. Auch diese Annahme betrachtet die Autorin kritisch.
Es wird deutlich, dass die Frauen nicht im Schatten der „great men“ standen, weil etwa die mittelalterlichen Chronisten geschlampt hätten, sondern der Fehler oder das Herausschreiben aus der Geschichte ist viel später, nämlich bei den Historikern der Aufklärung zu suchen – welch eine Überraschung… nicht.
Der Autorin ist es auch ein Anliegen, die Diversität der damaligen Zeit zu verdeutlichen. Sie geht immer wieder darauf ein, dass dort, wo Handel stattfand auch immer unterschiedliche Kulturen und Races aufeinandertrafen. Dass das Mittelalter also keine weiße, homogene Veranstaltung war. Auch damals wurden schon Gender-Normen in Frage gestellt. Ergo: Das Mittelalter war genauso divers wie unsere heutige Zeit auch; erst im Nachhinein wurde ein schwarz-weiß Filter darübergelegt. Und ich bin mir sicher, dass sich das von allen anderen Epochen behaupten lässt.
In diesem Zusammenhang ist mir das Kapitel „Exceptional and Outcast“ dennoch ein bisschen bitter aufgestoßen. In diesem Kapitel wird das Leben von Schwarzen Personen und von non-binary/transgender Personen behandelt. So interessant die Ausführungen auch waren, hatte ich doch eher das Gefühl, dass diese Personengruppe als Randthema behandelt und eher zusammenfassend dargestellt wurde. Mir ist klar, dass hier die Quellenbasis wohl noch dürftiger ist als sowieso schon.
Am Ende ruft die Historikerin dazu auf, in der eigenen Disziplin tätig zu werden und die dort unsichtbar gemacht Frauen wieder ans Licht zu holen. Dass diesem Aufrurf wohl hauptsächlich Frauen folgen werden, ist nicht überraschend. Denn meist sind es Frauen, die zu Frauen forschen. Im Bereich der Lexikographie, der Disziplin, der ich zugehörig bin, gibt es sogar schon entsprechende Bestrebungen, zB hier: „Women in the History of Lexicography. An overview, and the case of German“ (2022) von Nicola McLelland. Sehr spannend!
Dass bei diesem Sachbuch eine Wissenschaftlerin am Werk war, merkt man auch am hundertseitigen Anhang (bei knapp 447 Seiten): Danksagung, ausführliche Bibliographie und ein Index. So muss das!
Mein Fazit
„Femina. A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It” von Janina Ramirez ist ein sehr faszinierendes und lehrreiches Sachbuch, das Feminismus mit historischen Betrachtungen verquickt. Die Autorin zeigt, dass die von ihr vorgestellten Frauen nicht nur „Ausnahmen“ waren und auch nicht als solche verstanden werden dürfen, auch wenn die Gesellschaft alles daran legt, dies so zu vermitteln. Das Mittelalter war mehr als nur ein Zeitalter der Unterdrückung; es war ein Zeitalter, in dem die Frauen genauso unterschiedliche Rollen eingenommen haben wie sie es heute auch tun. Absolute Leseempfehlung!
Wie spannend, danke für die Vorstellung! Zuletzt hat mich Unlearn Patriarchy nicht so abgeholt; Beklaute Frauen fand ich besser strukturiert und durch den Sachbuchcharakter auch einheitlicher geschrieben. Femina fügt sich da super ein. Ich bin auch immer erstaunt, wenn irgendwo zur Sprache kommt, wie viel Gestaltungsfreiheit und politische Einflussnahmemöglichkeit etwa Äbtissinnen hatten. Und spätestens beim hundertseitigen Anhang hattest du mich: Da findet man bestimmt noch eine Menge weiterführender Lesetipps. Viele Grüße, Jana
Danke für deinen Kommentar! „Beklaute Frauen“ habe ich bei mir auch noch im Regal – das möchte ich auch bald lesen. Bin schon drauf gespannt, ob wir da mit unseren Meinungen zusammenkommen. Oh ja, der Anhang ist wirklich sehr ausführlich. Da merkt man wirklich, dass die Autorin ihr Handwerk versteht. Bei vielen Sachbüchern ist das ja eher nur ein verkümmertes Anhängsel mit dem man nicht so viel anfangen kann.