[Rezension] Flexen – Flâneusen* schreiben Städte

Flexen – Flâneuesen* schreiben Städte

Flexen

Herausgeber:innen: Özlem Özgül Dündar / Ronya Othmann / Mia Göhring / Lea Sauer
Verlag: Verbrecher Verlag | Seiten: 272
Erschienen: 2019

Kurzbeschreibung
In 30 Texten schildern Frauen, PoC und queere Menschen wie sie Städte erleben. Zentraler Topos dieser Texte ist die Flâneuserie und die Flâneuse. Die Figuren streifen durch Städte wie Berlin, Istanbul, Jakarta oder Mumbai und schildern wie es ihnen dabei ergeht.


Meine Meinung
Während der Lektüre ist mir aufgefallen, dass ich eine sehr ambivalente Einstellung zum urbanen Raum (Einkaufsstraßen, Parks usw.) habe. Tagsüber bzw. im Alltag habe ich einen relativ positiven oder neutralen Bezug zur Stadt, ihren Räumen und den Menschen dort. Und das liegt hauptsächlich daran, dass ich versuche mich so unauffällig wie möglich zu verhalten, um nicht aufzufallen. Und das gelingt mir in erster Linie, weil ich privilegiert bin, weil ich eine weiße, gesunde, heterosexuelle cis Frau bin. Deshalb fühle ich mich frei, wenn ich mich in der Stadt bewege.

Aber stimmt das wirklich? Ist es nicht auch eine Art der Unterdrückung oder Benachteiligung, wenn man alles tut, um nicht aufzufallen? Um nicht sich selbst zu sein? Vielleicht würde ich gerne mal irgendetwas tun, was nicht der Norm entspricht, um mal aufzufallen. Aber ist nicht genau das das Problem? Auffallen bedeutet Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit zieht ungewollte Blicke mit sich sowie unliebsame und übergriffige Kommentare und Handlungen. Sobald es dunkel wird, habe ich nicht mehr das Gefühl von „Freiheit“ oder „Unbeschwertheit“. Nachts fühle ich mich in der Stadt unwohl, fühle mich unfrei und habe Angst, weshalb ich niemals auf die Idee kommen würde, mich nachts alleine in der Stadt zu bewegen (nur zum Spaß an der Freude).

Über meine ambivalente Einstellung zur Stadt habe ich vorher nie nachgedacht – ich habe es einfach hingenommen. Aber muss ich das? Ist es nicht auch mein Recht, Raum für mich zu beanspruchen, ohne Angst haben zu müssen, dafür abgestraft zu werden? Somit kann ich durchaus behaupten, dass die Anthologie augenöffnend war. Mir ist meine eigene Situation bewusster geworden und auch die Situation von anderen Menschen. Obwohl jedes Erleben des urbanen Raumes ist einzigartig, treten doch auch dort Muster zu Tage. Muster der Benachteiligung, der Diskriminierung und der Unterdrückung. Die Anthologie zeigt, dass jede:r eine andere Art hat, die Stadt zu erleben; jede:r erlebt den urbanen Raum in seinem/ihren Schritttempo sozusagen. Das kommt in den Texten sehr gut zur Geltung.

Die Texte sind genauso unterschiedlich wie die Autor:innen (hier lohnt es sich, einen Blick in die Kurzbiographien am Ende des Buches zu werfen). Bei einigen Texten konnte ich mich direkt hineinfinden, weil sie meine Wirklichkeit oder einen Teil dieser Wirklichkeit widerspiegeln bzw. dieser sehr nah kommen. Dazu zählen im besonderen Maße: Wenn du lächeln würdest (Mirjam Aggeler), Dresden-Chemnitz (Deniz Ohde), Schritte machen (Svenja Gräfen), Brausen Schrägstrich Abspülen (Anke Stelling), Güerita (Leyla Bektaş).

Sehr berührend fand ich: Hausnummer 29 (Kamala Dubrovnik), Am Bayerischen Platz (Judith Coffey), Schaumnest (Leona Stahlmann), Abend im Sommer (Cornelia Manikowsky) und Eine Überlebende, Eine Zeugin, Ein Bericht (Lea Sauer).

Besonders aufschlussreich und informativ fand ich: Alleen und Frauen (Anneke Lubkowitz), Wie man die Stadt erobert (Julia Lauter), Otis (Svenja Reiner) und das Interview mit Lauren Elkin.

Andere Texte, wie zum Beispiel Favoritenstraße (Karin Peschka), Auf die andere Seite (Katharina Sucker) oder Das Exterieur (Sandra Burkhardt), haben bei mir kleine Fragezeichen hinterlassen.

Stilistisch sind die Texte sehr breit gefächert und ich fand auch ihre Auswahl sehr gut getroffen. Man findet ausdrucksstarke Lyrik oder lyrische Prosa, Essays, innere Monologe, Prosatexte und ein ganz besonders informatives Interview, welches ich gerne zu Beginn, vor allen anderen Texten gelesen hätte. Denn die Erläuterungen zur Flâneuserie und zur Flâneuse haben mir einige Fragen beantwortet, die im Laufe der Lektüre aufgekommen waren. Aber vielleicht war auch genau dieser rückwirkende Effekt gewollt und man war gezwungen nochmal über das bereits gelesen nachzudenken und es unter dem neu hinzugewonnen Wissen zu beleuchten. Auch thematisch deckt die Anthologie ein breites Spektrum ab (zum Beispiel häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, das Erleben der Stadt ganz allgemein usw.). Besonders auffällig fand ich an den Texten, dass in ihnen eine sehr negativ belastete, melancholische, traurig-niedergeschlagene Stimmung vorherrscht. Es wird sehr viel von Ausgrenzung gesprochen, von Ängsten, von Gewalt und über Gegensätze, über die eigene (Un-)Sichtbarkeit. Es geht aber auch um Mut und Stärke, die es braucht, um alledem die Stirn zu bieten.


Mein Fazit
Ich kann mich hier nur wiederholen: Für mich war die Anthologie augenöffnend. Sie hat mich zum Nachdenken angeregt, hat mich dazu bewegt, meine Sicht auf die Stadt, die Menschen darin, aber auch auf mich selbst zu differenzieren. Ich habe angefangen darüber nachzudenken, wo, wie, warum oder wann ich mich in der Stadt nicht frei oder zumindest leicht eingeschränkt fühle (nicht nur nachts, sondern auch tagsüber). Eine sehr aufschlussreiche, feministische und empowernde Lektüre. Wir Frauen, PoC und queere Menschen sollten mehr flanieren, uns den Raum nehmen, der uns zusteht; dabei aber achtsam sein, auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen. Und ja, an einem Wörterbucheintrag für das Wort Flâneuserie sollte unbedingt gearbeitet werden!


Mein Lieblingszitat
„Ein aufmunterndes Lachen. Eine auffordernde Kopfbewegung. Ich kenne den Text: Was schaust du so böse, du machst mir ja Angst. Lächle doch mal. Dann wärst du viel schöner. Eine Grenze überschritten. Ungeahnt. Da kann keine gewesen sein: Denn schöner sein will jede. Muss jede wollen. Das ist Gesetz. Und wider die Natur, wer die Blicke nicht erntet, wer sie verrotten lässt.“ (S. 45)

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