[Rezension] Gestapelte Frauen

Gestapelte Frauen – Patrícia Melo

Der Roman

Verlag: Unionsverlag | Seiten: 256
Originaltitel: Mulheres Empilhadas | Übersetzer*in: Barbara Mesquita
Erschienen: 2021

Kurzbeschreibung

Eine Ohrfeige, eine Beleidigung – der Zauber der neuen Liebe erlischt innerhalb eines Augenblicks. Um ihrem gewalttätigen Partner zu entkommen, nimmt die junge Anwältin aus São Paulo eine Stelle als Prozessbeobachterin im weit entfernten Cruzeiro do Sul in Acre an. Sie begleitet Gerichtsverhandlungen, die sich mit der „Aufklärung“ von brutalen Frauenmorden beschäftigen. Je tiefer sie in diesem Strudel aus Gewalt versinkt, desto näher treten längst vergessene Bilder aus ihrer Kindheit an die Oberfläche ihres Bewusstseins.


Meine Meinung

Die Gerichtsakten von ermordeten Frauen stapeln sich, denn

„mehr als zwölf Frauen werden täglich in Lateinamerika getötet, weil sie Frauen sind.“ (Deutschlandfunk, 21.6.2017).

Auch in Deutschland stehen wir mit den sogenannten „Beziehungstaten“ oder „Familiendramen“, wie sie euphemistisch betitelt werden, nicht besser da. Diskussionen zu Femiziden haben in der letzten Zeit zugenommen, aber Diskussionen reichen nicht aus. Diesem Thema muss sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, damit die Opfer Gerechtigkeit erfahren – eine Gerechtigkeit, die sie für sich selbst nicht mehr einfordern können.

Ein Roman über Frauenmorde ist immer auch ein Roman über Frauenhass, über Diskriminierung, über staatliches und juristisches Versagen und in diesem Fall auch eine Geschichte über Drogenhandel und organisierte Kriminalität. Der Roman schöpft seine Kraft aus der Wut: Eine Wut, die sich gegen all diese in der Gesellschaft strukturell etablierten Probleme und ihren mächtigen, männlichen Vertretern richtet. Es ist keine blinde Wut, denn der Autorin gelingt es durchaus zu differenzieren und sie verliert sich nicht in Pauschalisierungen oder Verallgemeinerungen. Auch werden Männer nicht pauschal zum Sündenbock erklärt. In jedem Fall kaufe ich der Autorin ab, dass die Situation der Frauen, der indigenen Bevölkerung, die Vorgänge des Justiz in Acre sich genauso abspielen wie beschrieben. Hinter diesem Roman steckt jede Menge aufmerksam durchgeführte Recherchearbeit.

Dieser Roman enthält noch eine weitere interessante Facette: Es geht nicht nur um Frauen allgemein, sondern auch speziell um die indigene Bevölkerung Acres, um ihre Geschichte, ihre Traditionen und wie sehr das Staatsversagen und der Rassismus, die Ablehnung, die Abscheu der restlichen (weißen) Bevölkerung ihr Leid verstärkt. Beim Lesen hatte ich allerdings das Gefühl, dass das Setting nur sehr skizzenhaft dargestellt wird. Das und mein mangelndes kulturelles Wissen (hinsichtlich der indigenen Kulturen) machten es mir schwer, an einigen Stellen richtig in die Geschichte abzutauchen.

„Gestapelte Frauen“ ist ein intensiver, aufwühlender Roman, den ich nicht einfach so runterlesen konnte. Die Geschichte um die junge, namenlose Anwältin, die in Acre (Brasilien) Gerichtsverhandlungen zu Frauenmorden verfolgt, erzählt die Autorin wie einen Krimi. In diesem Krimi verflechten sich Realität und Fantasie bis an den Punkt, an dem man nicht mehr sicher weiß, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Die Geschichte wird aus der Perspektive einer privilegierten Frau erzählt, die aber trotz ihrer Privilegien dem Frauenhass und der Gewalt durch Männer nicht entkommt. Aber auch sie ist nicht ohne Fehl: Ihre Priviligiertheit und die daraus resultierende Unwissenheit machen sich vor allem in ihrem Umgang mit der indigenen Bevölkerung bemerkbar.

Die Geschichte folgt einer klaren Struktur und wirkt sehr gut durchdacht: Das Buch weist unterschiedliche Kapiteltypen auf, die sich miteinander verschränken: Kapitel, in denen reale Femizid-Fälle prägnant zusammengefasst werden, verflechten sich abwechselnd einerseits mit der Geschichte der namenlosen Protagonistin, die selbst Erfahrungen mit Beziehungsgewalt macht und um dieser zu entgehen, sich vollständig den Gerichtsverhandlungen widmet und andererseits mit Kapiteln, in denen die Protagonistin in surrealistischen Träumen zusammen mit Amazon*innen auf tödliche Männerjagd geht. Diese Träume waren um ehrlich zu sein sehr gewöhnungsbedürftig, vor allem weil sie von Gewaltfantasien gegenüber Männern/Tätern geprägt sind. Obwohl es sich um Träume, Halluzinationen bzw Visionen handelt, kann ich diese Gewalt zwar nicht gutheißen, aber ich kann sie akzeptieren, weil sie auf erzählerischer Ebene keine Überhand nimmt. Man muss bis zum Ende durchhalten, um ihren wahren Sinn zu verstehen. Es ist auffällig, dass die Autorin sehr viel Wert auf die Namen der Opfer der Femizide legt, um dann in einem nächsten Schritt ihrer Protagonistin keinen Namen zu geben – das zeigt: niemand ist vor (partnerschaftlicher) Gewalt gefeit – auch keine weiße Anwältin. All diese Verflechtungen von Realität-Fantasie und Gegenwart-Vergangenheit sorgen für eine abwechslungsreiche, spannende und fesselnde Lektüre.

Wie schon erwähnt, spielt Gewalt und deren Ausübung eine große Rolle im Roman. Die Autorin hält sich mit Gewaltbeschreibungen nicht zurück, wenn es darum geht, das Leid, welches Frauen angetant wird, zu beschreiben. Man muss sich also auf explizite und drastische Gewaltszenen bereit machen.

Das Ende und die Auflösung des „Krimis“ haben mich um ehrlich zu sein sehr überrascht und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Einerseits vermittelt es ein ermächtigendes Gefühl, andererseits laufen dazu in meinem Kopf unschöne Szenarien ab, wie das noch in einer Katastrophe enden könnte.

CN: Diskriminierender, rassistischer Sprachgebrauch

Worüber ich mich sehr gewundert habe, war der diskriminierende Sprachgebrauch im Roman (ich gehe hierbei von der deutschen Übersetzung aus, weil mir das portugiesische Original nicht vorliegt): In der Übersetzung finden sich Ausdrücke wie das I-Wort (S. 55, 85), das N-Wort (S.19), die Wörter „Mischl*“ (S: 35) und „Mula*“ (S. 26) – nur um einige Beispiele zu erwähnen. Mir ist bewusst, dass die Autorin diesen Sprachgebrauch einerseits als Stilmittel verwendet, um den Rassismus innerhalb der weißen Bevölkerung von Acre darzustellen. Andererseits verwendet sie diese Wörter auch in der reinen Beschreibungssprache oder in den Gedanken ihrer Protagonistin (vielleicht als Effekt ihrer unreflektierten Privilegien einer weißen Frau?). Das ist ein Unding und man hätte es anders lösen müssen.


Mein Fazit

„Gestapelte Frauen“ von Patrícia Melo ist ein unglaublich wichtiger, aber auch schmerzhafter Roman. Nicht nur wegen der expliziten Gewaltszenen, sondern auch, weil mich die Schicksale der realen und fiktiven Frauen im Roman zutiefst berührt und mich unglaublich wütend gemacht haben. Es ist eine Geschichte, die einen auch lange nach dem Lesen noch begleitet, nachdenklich und traurig stimmt. Der diskriminierende Sprachgebrauch sorgt allerdings bei der Lektüre für einen bitteren Nachgeschmack – sehr schade!


Lieblingszitat

„Nichts ist einfacher zu erlernen als Frauenhass. An Lehrern herrscht kein Mangel. Der Vater macht es vor. Der Staat macht es vor. Das Rechtssystem macht es vor. Der Markt. Die Kultur. Die Werbung. Aber der beste Lehrer ist […] die Pornografie.“ (S. 95f)


Weitere Meinungen zu “Gestapelte Frauen” von Patrícia Melo

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