#IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland – Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian KubonVerlag: Suhrkamp Verlag | Seiten: 144 Erschienen: 2022 |
Kurzbeschreibung
Die Streitschrift „#IchBinHanna – Prekäre Wissenschaft in Deutschland“ leistet einen allgemeinen Überblick über die Onlinekampagne #IchBinHanna und ihre Konsequenzen sowie über das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, die daraus resultierenden Arbeitsbedingungen (in Studium, Forschung und Lehre) und Berufsaussichten für Forscher*innen und Lehrende im akademischen Mittelbau in Deutschland.
Meine Meinung
Ob man in Deutschland eine wissenschaftliche/akademische Laufbahn einschlagen möchte, muss man sich gut überlegen – das zeigt diese Streitschrift auf gerade mal 120 Seiten sehr deutlich. Als der Hashtag #IchBinHanna 2021 so hohe Wellen auf Twitter schlug und auch auf die Offline-Welt überschwappte („überschwappen“ ist eigentlich untertrieben), hätte ich nie gedacht, dass diese Diskussion für mich tatsächlich relevant werden könnte. Aber Anfang letzten Jahres hatte auch ich meinen #IchBinHanna-Aha-Moment. So ist diese Streitschrift für mich quasi zur Pflichtlektüre geworden. Ich bin den Initiator*innen/Autor*innen dieser Debatte/dieses Sachbuches extrem dankbar, dass ich diesen Hanna-Aha-Moment jetzt mit Ende 20 und nicht erst mit Mitte/Ende 30 hatte.
Die Streitschrift ist klar strukturiert: In der Einleitung befassen sich die Autor*innen mit der Frage wer Hanna überhaupt ist. Es geht um das Video des Forschungsministeriums, in dem die fiktive Biologin Hanna die Vorzüge des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (Zum YouTube-Video) anpreist, um die daraus resultierende Twitter-Debatte und um all die Diskussionen, die schon im Vorfeld stattfanden (zB #95vsWissZeitVG 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz). Die Autor*innen geben einen allgemeinen Überblick zur Prekarität des deutschen Wissenschaftsbetriebs.
Daran anschließend wird aufgerollt, wie es zum jetzigen Wissenschaftszeitvertragsgesetz gekommen ist. Die Autor*innen nehmen eine historische Perspektive ein und versuchen die vielen Fäden, aus denen das gegenwärtige WissZeitVG gewebt ist, aufzudröseln. Zugegebenermaßen fand ich diesen Teil des Sachbuches, eben weil er so vielschichtig und noch nie wirklich aufgearbeitet worden ist, sehr verwirrend. Alleine schon für dieses Kapitel bräuchte man eine eigene Publikation.
Im vorletzten Kapitel widmen sich die Autorinnen den Problemen des aktuellen deutschen Wissenschaftssystem. Sie betrachten die Probleme und deren Auswirkungen nicht nur auf die Wissenschaftler*innen und den Wissenschaftsbetrieb, sondern verfolgen dabei eine gesamtgesellschaftliche Herangehensweise. Sie erklären ua, welche Auswirkungen prekäre Wissenschaft auf die Gesellschaft hat. Doch die Autor*innen prangern nicht nur an, sondern sie geben auch konkrete Lösungsvorschläge.
Es wird deutlich, dass nicht nur das Gesetz allein problematisch ist, sondern sich die Auswüchse dieser Probleme bis in den tiefsten strukturellen Kern der Wissenschaft und Gesellschaft erstrecken, weshalb es viel einfacher ist, von Lösungen und Reformen zu sprechen als sie tatsächlich umzusetzen.
Auf knapp 120 Seiten wird also Klarheit geschaffen oder man versucht es zumindest: Klarheit über ein System, das am liebsten so undurchsichtig bleiben möchte wie nur möglich. Und deshalb ziehe ich meinen Hut vor den Autor*innen. Sehr interessant fand ich die Ausführungen zu den Buzzwörtern, um die man in Anträgen und sogar in Studiengangsbeschreibungen nicht herumkommt, wie zB Innovation, Fluktuation, Konkurrenz, Wettbewerb oder Exzellenz. Fun Fact: Mein Bachelor-Studium ist/war ein Exzellenzstudium.
Nur sehr kurz gehen die Autor*innen auf die Diskussion rund um den Hashtag #IchBinReyhan ein. Während unter #IchBinHanna hauptsächlich weiße Wissenschaftler*innen über ihre prekären Arbeitsbedingungen berichten, findet man unter #IchBinReyhan (Zum Twitter-Thread von #IchBinReyhan) die Perspektive von Wissenschaftler*innen of Colour, die nochmal von ganz anderen Problemen betroffen sind. Auch werfen die Autor*innen nur einen kurzen Seitenblick auf die Konsequenzen für behinderte Wissenschaftler*innen. Denn zu den prekären Arbeitsbedingungen gesellen sich auch verschiedene Diskriminierungsformen: Sexismus, Rassismus und Behindertenfeindlichkeiten stehen hier in erster Reihe. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Aspekt noch ein wenig ausführlicher betrachtet worden wäre. Aber um es auf eine würdige und ausführliche Art und Weise zu behandeln, bräuchte es wiederum eine eigene Publikation (oder nein, mehrere).
Woran ich mich ein wenig gestört habe, ist, dass die Autor*innen verallgemeinernd über Wissenschaft bzw. Wissenschaften sprechen. Natürlich betreffen die Konsequenzen des WissZeitVG alle Wissenschaftler*innen unabhängig von dem von ihnen gewählten Forschungszweig, aber es ist genauso wichtig, dass je nach Forschungszweig noch andere Folgen mitzudenken sind. Ich denke zB, dass die Geisteswissenschaften mit anderen #IchBinHanna-Herausforderungen zu kämpfen haben als die Naturwissenschaften. 120 Seiten bieten nicht annähernd genug Platz, um alldem gerecht zu werden. Aber dieses Sachbuch sollte auch nur einen ersten Überblick bieten und das ist den Autor*innen sehr gut gelungen. Man kann noch nicht einmal sagen, dass diese Streitschrift ein Anfang ist – denn die Ursprünge der #IchBinHanna-Debatte gehen weit zurück (das erfährt man in der Einleitung). Aber für mich war die Streitschrift ein wichtiger Anfang und das ist das, was für mich zählt.
Mein Fazit
Die Streitschrift hat mir neue Perspektiven auf meinen eigenen bisherigen und zukünftigen akademischen Werdegang eröffnet. #IchBinHanna hat etwas losgetreten, das so nicht mehr rückgängig zu machen ist: sowohl in mir als auch in der Gesellschaft. Hiermit möchte ich eine absolute Leseempfehlung aussprechen: für Akademiker*innen (egal ob angehend, befristet oder entfristet, egal ob Student*in, Dozent*in, Doktorand*in oder Professor*in) und auch für alle Nicht-Akademiker*innen. Denn #IchBinHanna ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das gesamtgesellschaftliche Lösungen erfordert. Hätte es das Buch doch nur schon zu meiner Studienzeit gegeben – das hätte einiges einfacher gemacht.