Titel: Kleine große Schritte
Original: Small great things
Autorin: Jodi Picoult
Übersetzerin Elfriede Peschel
Verlag: C. Bertelsmann
Seiten: 592
Erschienen: 2017
Kurzbeschreibung
Ruth Jefferson arbeitet seit 20 Jahren als Säuglingsschwester. Doch als sie eines Tages ein Neugeborenes versorgen will, wird ihr dies von ihrer Vorgesetzten untersagt. Die Eltern, beide ‚weiße Suprematisten‘, wollen nicht, dass sich eine Afroamerikanerin um ihr Baby kümmert. Als es zu einem Notfall kommt und Ruth die einzig anwesende Pflegekraft ist, setzt sie sich über das Verbot hinweg. Doch das Kind stirbt und Ruth wird des Mordes angeklagt.
Meine Meinung
‚Kleine große Schritte‘ ist mal wieder ein typischer Picoult: Der Roman behandelt ein sehr aktuelles und gesellschaftskritisches Thema, und zwar Rassismus und Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA (durch sog. ‚weiße Suprematisten‘). Ich habe diesen letzten Teil absichtlich in Klammern gesetzt, weil der Rassismus und die Diskriminierung, von der man im Roman liest, nicht nur (zwar hauptsächlich) von ‚weißen Suprematisten‘ ausgeübt wird, sondern auch unbewusst durch die ’normale Bevölkerung‘. Rassismus und Diskriminierung sind kein amerikanisches Phänomen, sondern ein internationales Problem. Rassismus und Diskriminierung machen vor niemandem Halt, egal welche Hautfarbe, welches Geschlecht oder welche Religionszugehörigkeit. Das wird in Picoults Roman glasklar.
Die Autorin lässt in der Geschichte drei Figuren zu Wort kommen, die man fast als ‚Stellvertreter‘ einer größeren Bevölkerungsgruppe ansehen könnte. Ruth, eine afroamerikanische Krankenschwester; Turk, ein weißer Suprematist; und Kennedy, eine weiße, liberale Pflichtverteidigerin. Mehr Perspektiven hätte es in diesem Roman auch absolut nicht geben dürfen. Die Thematik, die Figuren und die zugrunde liegende Handlung sorgen für allerlei Spannungen und Emotionen. ‚Kleine große Schritte‘ ist keine banale oder oberflächliche Geschichte, sondern sie geht viel tiefer und ist nicht leicht zu verdauen.
Rassismus ist ein schwieriges und heikles Thema. Darüber zu schreiben und es in eine Geschichte zu verpacken, muss noch viel schwieriger sein. Denn, schafft man es jemals den Opfern gerecht zu werden? Vor allem wenn man noch nie Opfer war und man auch keine Angst haben muss, es zu werden? Ich denke, nein. Aber Jodi Picoult hat einen angemessenen und mutigen Schritt in die richtige Richtung getan, um uns allen die Augen zu öffnen. Mir ist natürlich klar, dass kein Individuum für eine ganze Bevölkerungsgruppe sprechen kann, egal wie gut und wie viel im Vorhinein recherchiert wurde, aber ich denke Picoult hat es annäherungsweise geschafft. In ihrem Nachwort, das ich jeden ans Herz lege, schreibt Picoult:
I was writing to my own community – white people – who can very easily point to a neo-nazi skinhead and say he’s a racist… but who can’t recognize racism in themselves (S. 460)
Das Nachwort zu lesen, ist für das Verständnis der Geschichte sehr wichtig. Es liefert Antworten auf Fragen, die man sich im Lauf der Lektüre stellt. Die Autorin spricht mit ihrem Buch nicht die Opfer des Rassismus und der Diskriminierung an, sondern die ‚Täter‘. Trotz allem hätte ich mir gewünscht, dass Picoult den Roman gemeinsam mit einer afroamerikanischen Autorin geschrieben hätte. Ich denke, dass Ruths Geschichte, und die vieler anderer Frauen und Männer, auf diese Weise noch authentischer und ehrlicher hätte erzählt werden können.
Die Art und Weise wie Picoult schreibt, wie sie ihre Figuren denken, sprechen und handeln lässt, ist einzigartig und unnachahmlich. Wie keine andere schafft sie es Emotionen, Eindrücke und Meinung sehr lebendig, plastisch und vor allem glaubwürdig zu Papier zu bringen. Sie schafft es immer wieder eindrucksvoll, intensiv und eindringlich zu erzählen. Eine Erzählweise, die unter die Haut geht.
Die Tragik der Handlung hat bei mir für Gänsehaut gesorgt. Das dahinterstehende Dilemma und die Problematik waren eigentlich gar nicht richtig fassbar. Und das ist es, was Jodi Picoults Romane ausmacht. Sie wagt sich über eine ‚was wäre wenn‘-Grenze hinaus. Auch Turks Erzählperspektive hat bei mir für Gänsehaut gesorgt, aber aus einem ganz anderem Grund. Teilweise war mir echt zum Kotzen und ich war auf 180. So viele widerliche Stammtischparolen und diese unlogische und verblendete Denkweise; nicht zu glauben. Einfach nur ekelhaft und lachhaft. Allgemein (bei allen drei Erzählperspektiven) enthielt der Roman sehr viele Stereotypen, Klischees und Übertreibung, was mir die Lektüre teilweise sehr schwer gemacht hat. Aber es sind genau diese Mittel, die eine Reaktion im Leser hervorrufen, die ihn triggern und zum Nachdenken anregen. Gegen Ende mäßigte sich das, weil die Handlung mit ein paar unerwarteten Wendungen aufwartet und sich der Fokus verschiebt.
Ich habe sehr viel aus dem Roman mitgenommen, z. B. dass Rassismus und Diskriminierung nicht nur vom Hass, sondern auch von Vorurteilen und Ignoranzen genährt werden. Das Wichtigste: Dass Worte, die für den einen klein und unbedeutend erscheinen mögen, für den anderen groß, unüberwindbar und verletzend sein können. Es ist Zeit, dass wir achtsamer im Umgang miteinander werden. Ich habe jetzt, beim Schreiben dieser Rezension, immer noch Gänsehaut wenn ich an die Geschichte und ihre Konsequenzen denke.
Mein Fazit
‚Kleine große Schritte‘ ist ein sehr intensiver und anspruchsvoller Roman. Es ist kein Roman für Zwischendurch, denn er verlangt die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Die Geschichte führt dazu, dass man nachdenkt, dass man sich mit dem Gelesenen auseinandersetzt, sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen. Und ja, man kann sich einfach auf Jodi Picoult verlassen: sie liefert einfach immer ab. Somit: Klare Leseempfehlung!