Lügen über meine Mutter – Daniela DröscherVerlag: Kiepenheuer&Witsch | Seiten: 448 Erscheinungsjahr: 2022 |
Kurzbeschreibung
Elas Mutter ist zu dick. Davon ist Elas Vaters fest überzeugt. Sie muss abnehmen – egal wie. Er ist der Meinung, dass das Übergewicht seiner Frau für all die Mängel in seinem Leben verantwortlich ist: für die ausstehende Beförderung, für die fehlende gesellschaftliche Anerkennung, für seine eigene Unzufriedenheit. Daniela Dröscher erzählt zweierlei: Einerseits von einer Kindheit in den 80er Jahren in einem deutschen Dorf und andererseits vom kritischen Blick, den das Erwachsensein auf diese Geschehnisse erlaubt.
Meine Meinung
Dieser Roman gewährt dem Leser*der Leserin Blicke hinter die Kulissen einer „normalen“ Familie oder zumindest auf das, was ein Vater krampfhaft versucht, in das Wort „normal“ zu quetschen. Die Autorin nennt es ein „Kammerspiel namens Familie“, für mich ist es ein Trauerspiel – und irgendwie läuft es am Ende auf das Gleiche hinaus.
Daniela Dröscher verwandelt in diesem Roman ihre Eltern in Figuren: Sie bleiben zwar in Teilen für sich als Individuen bestehen, werden aber insgesamt zu etwas Repräsentativem. Sie stehen für die Probleme einer ganzen Generation, einer ganzen Gesellschaft. Es sind die 80er Jahre in Deutschland: Es ist eine Zeit zwischen Körperkult, neoliberaler Reformen, Umweltbewegungen, politischer Veränderungen im Ostblock und Tschernobyl. In dieses Panorama bettet sich dieser Roman ein.
Elas Familie ist die heteronormative, BRD-Vorzeige-Kernfamilie, die allerdings bis zum Kern verkommen ist. Die Mutter ist nicht nur dick und übergewichtig, sondern sie trägt auch noch die Last der Unterdrückung, der Unterordnung, der Aufopferung und der Ablehnung durch die eigenen Familienmitglieder. Da sind nicht nur die täglichen Verletzungen durch ihren Ehemann, der sie auf die Waage zwingt. Er ist der Meinung, dass das Gewicht seiner Frau etwas ist, das er verändern kann, während er überall sonst gegen Wände rennt. Da ist die Abneigung der Schwiegerfamilie, der sie nicht aus dem Weg gehen kann, weil sie im gleichen Haus wohnen. Und auch die Liebe und Zuneigung ihrer Tochter wird immer mehr von den Behauptungen des Vaters verwaschen und gemindert.
Eine Frage, die mich während der gesamten Lektüre beschäftigte: Ist Elas Mutter wirklich zu dick? Denn es wird nie konkret benannt, wie dick sie ist. Es war traurig mitanzusehen, wie das angeblich zu hohe Körpergewicht all die übrigen Eigenschaften dieser beeindruckenden Person überschattete. Elas Mutter ist resilient, offenherzig, intelligent und stark. Was sind da schon ein paar Kilo zu viel auf der Waage?
Von ihrer Kindheit, dem Verhalten ihres Vaters und der Abwertung ihrer Mutter erzählt die Autorin in einer beeindruckenden Klarheit. Wie der Autorin eine so detailgenaue Erzählung gelungen ist? Ich weiß es nicht. Wenn ich an mein 6-jähriges Ich und vor allem an unser damaliges Familienleben zurückdenke, kann ich nicht mit derselben Einsichtigkeit aufwarten. Ich gehe also ganz stark davon aus, dass hier nachträglich ergänzt, konstruiert und erfunden wurde.
Ich hatte auch das Gefühl, dass das kindliche Alter Ego die erwachsene Stimme der Autorin nicht ganz ablegen konnte. Die Erwachsene erzählt durch die Augen des Kindes; man bemerkt zwar hier und da ,die Unbedarftheit und Verständnislosigkeit des Kindes, das alles für baare Münze nimmt, aber es bleibt immer etwas Erwachsenes zurück. Oder: Ist es die eigene erwachsene Sicht, die sich beim Lesen über das Erzählte legt? Eine gewisse Skepsis und Unsicherheit bleibt und genau das macht auch den Reiz des Romans aus.
Die Familienerzählung wird von Zwischenkapitel unterbrochen, in denen die erwachsene Ela das Geschehene Revue passieren lässt und kritisch auf das Vergangenheits-Ich zurückblickt. Sie hinterfragt Ereignisse, Aussagen und Gefühle, die sie als Kind nicht verstanden oder die sie übersehen hatte. Sie bedauert den Einfluss, den die Worte und das Verhalten ihres Vaters auf sie hatte und fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Sie betrachtet ihre Arbeit als Schriftstellerin und was sie mit ihrer Arbeit bewirken kann und wie ihr Wirken mit dem Schicksal ihrer Mutter verbunden ist.
Die Zwischenkapitel liefern eine historische und gesellschaftliche Einordnung, in der es um Konzepte wie Männlichkeit, Patriarchat, Parentifizierung und Vaterschaft geht. An diese Kapitel musste ich mich zunächst gewöhnen, weil ich sie zuerst als störend wahrgenommen habe. Aber mit Voranschreiten der Handlung liefern sie wertvolle Einsichten in das Geschehen und in Ela als Kind vs. Erwachsene. Außerdem kommt in diesen Kapitel auch die Mutter zu Wort: Denn die Mutter selbst hat im Roman fast keine eigene Stimme – es wird immer nur über sie gesprochen.
Was mir besonders gut gefallen hat, waren die im Fließtext eingebauten, durch Kursivierung markierten Redewendungen: „sich dumm anstellen“ oder „wie die Orgelpfeifen“. Die Autorin bezeichnet diese als ein Geländer, an dem sich ihre Eltern festhielten (S. 278). Es sind Strukturen, die unserem Denken und Handeln Halt geben, vor allem wenn sich um uns herum die Welt unaufhaltsam wandelt. Ich habe diese Wendungen auch als etwas Autoritatives wahrgenommen. Ich habe sie in meinem Kopf immer mit einer anderen, ernsteren, erwachsenere, besserwisserischen Stimme gelesen. Mit diesen Wendungen schlägt die Autorin der Frage nach gutem und schlechtem Stil ein Schnippchen.
Mein Fazit
„Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher hat mich überrascht und sich zu einem Lesehighlight des Jahres 2024 gemausert. Die Autorin tritt mit diesem Roman für all die Frauen ein, die in unglücklichen Ehen und toxischen Familienkonstellationen festsitzen und keinen Ausweg kennen oder finden. Es ist ein Versuch der Wiedergutmachung und der Ermächtigung. Es ist ein Kammerspiel, ein Trauerspiel einer Familie, die unbedingt „normal“ sein will und damit innerhalb der eigenen Reihe eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Absolute Leseempfehlung!
Weitere Meinungen zu “Lügen über meine Mutter” von Daniela Dröscher
- Rezension von Die Schreibmaschine
- Rezension von Buch-Haltung
- Rezension von Kommunikatives Lesen