Die italienische Ausgabe des Romans liegt umgeben von Buntstiften, zwei zetteln mit Zahlenkolonnen und zwei Würfeln (der eine Würfel hat fünf Augen, der andere 1 Auge) auf einer grauen Decke.

[Rezension] Nichts davon ist wahr

Nichts davon ist wahr – Veronica Raimo

Die italienische Ausgabe des Romans liegt umgeben von Buntstiften, zwei zetteln mit Zahlenkolonnen und zwei Würfeln (der eine Würfel hat fünf Augen, der andere 1 Auge) auf einer grauen Decke.

Verlag: Klett/Cotta | Seiten: 224
Übersetzer*in: Verena von Koskull | Erscheinungsjahr: 2023

Kurzbeschreibung

Eine Mutter mit einer Angststörung, ein Vater mit Zwangsstörungen und ein Brudergenie, das bevorzugt wird – das ist der Familienrahmen, in dem die Erzählerin aufwächst. Sie erzählt von den Wunden, die sie von ihrem Aufwachsen in dieser Familie über Jahre hinweg davonträgt und die sich auch auf ihr Erwachsenenleben auswirken.


Meine Meinung

Coming-of-Age-Romane und ich sind kein gutes Match. Trotzdem versuche ich es immer wieder aufs Neue, diesem Genre etwas abzugewinnen. Aber auch bei „Niente di vero“ (dt: Nichts davon ist wahr) von Veronica Raimo, laut Klappentext eigentlich ein „aus dem Inneren heraus sabotierter Bildungsroman“, der 2022 den Premio Strega Giovane gewonnen hat, war es nicht anders.

In dieser „autofiktionale Tragikomödie“ verarbeitet die Erzählerin, die den Namen Verika trägt, ihr Erwachsenwerden in einer mehr oder weniger „dysfunktionalen“ Familie. Die Ereignisse werden von einer unzuverlässigen Erzählerin geschildert, bei der man sich immer wieder frage muss, wie viel der Autorin steckt in dieser Erzählerin? „Nichts davon ist wahr“ ist eine Art autobiographischer Roman, der mit der Realität und der Autofiktionalität spielt und beides miteinander vermischt. Der Wahrheitsgehalt der anekdotisch aufgearbeiteten Erinnerungen ist mehr als fragwürdig: Die Erzählerin widerspricht sich oft selbst, sie übertreibt und gibt (vor allem gegen Ende) etwaige Verfälschungen und Veränderungen der Wahrheit zu. Dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, verrät auch schon der Titel: „Niente di vero“ bzw „Nichts davon ist wahr“. Mit diesem absichtlichen Verwirrspiel, das man bestimmt als geschickten und geistreichen erzählerischen Kniff sehen kann, konnte mich die Autorin nicht für ihre Erzählerin und ihre Geschichte einnehmen. Ganz im Gegenteil war ich während der Lektüre regelrecht verärgert, weil es nicht die Geschichte war, die ich gehofft hatte zu lesen. Ich hatte aber auch kein Herz, den Roman einfach abzubrechen.

Die Anekdoten folgen keiner linearen Chronologie, auch ein logischer Faden ist nirgends zu greifen. Mir kam es so vor, als würde die Autorin mithilfe dieses Romans versuchen, die seelischen Traumata ihrer Kindheit, Jugend und ihres frühen (und späten) Erwachsenenlebens aufzuarbeiten. Der Roman ist ein einziges „trauma dumping“: Die Autorin entleert auf den Seiten Ladungen seelisch-emotionaler Lasten – angenehm war das nicht. Wenn man selbst emotionale Lasten mit sich herumträgt, dann sollte man es vielleicht behutsam angehen lassen.

Die Lektüre war seiten- und kapitelweise echt anstrengend und mehr als einmal hat sich ein peinlich berührtes Lachen über meine Lippen gestohlen und mein Gesicht hat sich pikiert verzogen. Wieso der Verlag den Roman als „sehr lustig“ beschreibt, ist mir nicht ganz klar – aber ja, manchmal kann Humor wohl auch ein Bewältigungsmechanismus sein? Während der gesamten Lektüre kommt man aus einer schwarz-weißen, verletzten, trostlosen Gefühlsachterbahn nicht heraus. Ich war deshalb versucht, das Buch in einem Rutsch oder zumindest in so wenig Sitzungen wie möglich zu lesen. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass die Erzählerin entweder ihrer Familie oder ihren leichtgläubigen Leser*innen eins auswischen möchte. Beides hat bei mir einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.

Es wird sehr deutlich, dass die Autorin-Erzählerin verzweifelt versucht, inmitten ihrer dysfunktionalen Familie das eigene Selbst auszubilden. Der Roman kommt als Abrechnung mit ihrer Familie und den emotionalen Wunden daher, die diese geschlagen haben. Es ist die bittere Realisierung, dass Zeit nicht immer alle Wunden heilt bzw. heilen kann.

Mich persönlich hat die Erzählung dieses Lebens, dieser Selbstfindung nicht erreicht. In meinem Kopf haben sich die Anekdoten zu einem riesigen Klumpen amalgamiert, der mir schwer im Magen liegt; an Einzelheiten kann ich mich kaum erinnern. Es sind innere Monologe, gehalten in der Ich-Form, die so dahinplätschern und von einer gewissen Emotionslosigkeit und Gleichgültigkeit geprägt sind. Es ist ein sehr nüchterner Schreibstil, der eine gewisse Verletzbarkeit zu übertünchen versucht. Auch der am Ende des Romans angeführte Rechtfertigungsversuch ihres Schreibens hat bei mir eher Unverständnis hervorgerufen und ist ins Leere gelaufen.

Meine Vermutung lautet ja, dass ich ganz einfach nicht zur Zielgruppe des Romans gehöre, weshalb ich auch keinen Zugang zur Geschichte und zur Erzählerin/Autorin gefunden habe. Trotzdem glaube ich zu verstehen, warum dieser Roman die Stimmen der Jugendjury auf sich vereinigen konnte. Wir leben in einer Zeit, in der die Kernfamilie vielseitiger Kritik ausgesetzt ist: Das Modell kommt in der heutigen Zeit immer häufiger an seine Grenzen, es verliert seine Relevanz. Die Kernfamilie hat ganz einfach ihre Unantastbarkeit verloren.

Es ist kein Tabu mehr von dysfunktionalen, toxischen Familien zu erzählen, davon, dass es akzeptabel und manchmal lebensrettend sein kann, den Kontakt zu Familienmitgliedern abzubrechen. Geschichten von der „chosen“ oder „found family“ werden immer häufiger und beliebter. Somit könnte man sagen, dass die Autorin Jugendlichen, die ein ähnliches Aufwachsen erleben, eine Stimme gibt. Auch leben wir in einer Zeit, in der sich Identitätskrise auf Identitätskrise häuft, weshalb sich Erzählungen von Identität sowieso einer gewissen Beliebtheit erfreuen.

Beim Verfassen dieser Rezension sind mir auch ein paar Zeilen aus dem Lied „Family Portrait“ von P!nk aus den 2000er Jahren in den Sinn gekommen, in welchem die Sängerin ihre Erfahrungen als Scheidungskind verarbeitet: „In our family portrait, we look pretty happy|Let’s play pretend, act and like it comes so naturally”. Diese Zeilen passen zu dem Roman einfach wie die Faust aufs Auge. Inoffziell galt Pinks Lied als Hymne für die Jugendlichen, die sich mit der Scheidung ihrer Eltern konfrontiert sahen. Und vielleicht ist für die Jugendlichen dieser Roman etwas Ähnliches? Könnte dieser Roman etwa eine Hymne für all die Jugendlichen sein, die mit ihrem Familienumfeld zu kämpfen haben, die sich in ihrem Erwachsenwerden verloren fühlen und gegen ihrer Selbstzweifel ankämpfen? Diese Gedanken lassen mich etwas freundlicher auf den Roman blicken.


Mein Fazit

„Nichts davon ist wahr“ von Veronica Raimo lässt mich ein wenig unentschlossen zurück. Persönlich konnte ich nicht so viel aus dem Roman mitnehmen, obwohl es hier und da durchaus bedeutungsvolle Momente gab. Für mich ist dieser Roman keine sehr lustige, autofiktionale Tragikomödie – aber vielleicht fehlt mir auch einfach nur der passende Humor? Und anscheinend kann ich weder mit herkömmlichen noch mit „sabotierten“ Coming-of-Age-Romanen etwas anfangen.


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