The Bookbinder of Jericho – Pip WilliamsVerlag: Chatto & Windus | Seiten: 448 Erscheinungsjahr: 2023 |
Kurzbeschreibung
Die Zwillingsschwestern Peggy und Maude arbeiten seit ihrer Kindheit als Buchbinderinnen im Universitätsverlag Oxford University Press. Sie stammen aus dem Arbeiterviertel Oxfords und leben in ärmlichen Verhältnissen. Peggy träumt davon, zu studieren und ihrer Arbeit als Buchbindern und ihrem Leben in Jericho zu entfliehen. Doch das würde auch bedeuten, ihre Schwester Maude zurückzulassen. Als die männlichen Angestellten der Oxford University Press 1914 in den Krieg an die Westfront ziehen, müssen die Frauen neue Herausforderungen stemmen: Im Verlag arbeiten sie längere Schichten, sie melden sich als Freiwillige, um sich um die Kriegsversehrten zu kümmern oder nehmen sich den Kriegsflüchtlingen an. Neben neuen Herausforderungen eröffnen sich für Peggy auch neue Möglichkeiten und sie muss entscheiden, wie sie ihre Zukunft gestalten möchte.
Meine Meinung
Nachdem mich „The Dictionary of Lost Words” so sehr begeistert hatte, konnte ich nicht anders als mich für „The Bookbinder of Jericho“ zu entscheiden als ich es zufällig in der Buchhandlung erblickte. Und ich bin sehr erleichtert darüber, dass mich Pip Williams auch mit diesem Roman absolut überzeugen konnte.
Die Waisen und Zwillingsschwestern Peggy und Maude leben im Arbeiterviertel Jericho auf dem Hausboot „Calliope“, das einer schwimmenden Bibliothek gleicht. Seit ihrer frühen Jugend bzw. Kindheit arbeiten die Schwestern in der Buchbinderei der Oxford University Press, zunächst zusammen mit ihrer Mutter und nach dem Tod derselben, übernimmt Peggy für ihre Schwester die Rolle einer Schwester, Mutter und Betreuerin. Der Beginn des Ersten Weltkriegs verändert das Leben der beiden Zwillingsschwestern und stellt sie vor neue Herausforderungen.
Wenn man „The Dictionary of Lost Words” gelesen hat, dann wird man sich über das Wiedersehen mit ein paar Figuren in „The Bookbinder of Jericho“ sehr freuen, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn man weiß ja schließlich schon, wie es dort ausgeht. Für das Verständnis des Romans ist es aber unerheblich, ob man „The Dictionary of Lost Words“ gelesen hat.
Die beiden Romane eröffnen unterschiedliche Perspektive auf die Arbeit im Verlag und auf das Leben in Oxford zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während im ersten Roman die Geschichte aus einer privilegierten Perspektive erzählt wird, die trotzdem nicht ohne Schicksalsschläge bleibt, wird in „The Bookbinder of Jericho“ eine Geschichte aus einer unterprivilegierten Perspektive erzählt. Man lernt den Verlag, die Stadt Oxford und auch das Kriegsgeschehen aus unterschiedlichen, fast entgegengesetzten Perspektiven kennen und doch bleiben einige Ähnlichkeiten, zB die Schrecken und die gesellschaftlichen Konsequenzen des Ersten Weltkriegs. Ein kleines Detail, bei dem mir das Herz aufgegangen ist, betrifft eine Eigenschaft der jeweiligen Protagonistinnen: Peggy und Esme sind beide Langfinger. Die eine stiehlt Belegkarten und die andere lässt Textseiten aus der Binderei verschwinden. Herrlich!
Eine wichtige Rolle in Peggys Leben spielt ihre Zwillingsschwester Maude. Nach dem Tod ihrer Mutter hat Peggy ihr eigenes Leben und ihre Bedürfnisse an denen ihrer Schwester ausgerichtet. Sie bringt für ihre Schwester viele Opfer: Sie stellt ihre Zukunft zurück, um sicherzustellen, dass es Maude gut geht. Ich gehe davon aus, dass Maude eine Art „Entwicklungsstörung“ hat, die sich auf ihren sozialen Umgang mit Menschen auswirkt, auf ihre Art und Weise der Kommunikation und auf ihre Verhaltensweisen. Bspw kommuniziert Maude, indem sie Gesprächsfetzen anderer wiederholt (das nennt sich wohl Echolalie). Ich schätze, dass Maude auf dem autistischen Spektrum einzuordnen ist und somit neurodivers ist. Sie verbringt den Großteil ihrer Zeit damit Origami zu falten und das auf meisterhafte Weise. In der Buchbinderei erledigt sie ihre Aufgaben routiniert, sie faltet die Seiten präzise, auch wenn sie manchmal von ihrer Aufgabe abschweift. Ich kann leider nicht genau beurteilen, ob die Darstellung von Maude im Roman von Ableismus geprägt ist und wenn ja, wie stark dieser zur Geltung kommt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihre Figur auf ihren Autismus reduziert wird. Sie ist nicht ihr Autismus, sondern sie ist ein Mensch – so habe ich sie beim Lesen zumindest wahrgenommen. Dass sich einige Figuren ihr gegenüber ableistisch verhalten, ist leider ein Fakt. Deshalb fand ich vor allem auch die Beziehung zwischen den beiden Schwestern sehr interessant, weil Peggy ihrer Schwester gegenüber durchaus ableistisch ist. Man erhält aber nur einen Einblick in Peggys Perspektive, nicht aber umgekehrt. Die Einseitigkeit dieser Darstellung und das Machtgefälle zwischen den beiden Schwestern machen den Grundkonflikt des Romans aus und somit ist Ableismus (auch wenn er hier „gut gemeint“ ist) ein integraler Teil der Geschichte. Peggy glaubt zu wissen, was Maude braucht und wo ihre Grenzen liegen.
Auch in „The Bookbinder of Jericho“ steht die Situation der Frauen im Vordergrund. Ich würde nicht sagen, dass sie in diesem Roman stärker im Vordergrund stehen als in „The Dictionary of Lost Words“. Aber die Perspektive macht es: In „The Dictionary of Lost Words“ versucht eine junge Frau aus der gehobenen Schicht, Frauen aus den verschiedensten sozialen Schichten eine Stimme zu geben. Dagegen geht es in „The Bookbinder of Jericho“ um eine unterprivilegierte Frau, die trotz Klassismus, trotz Armut, trotz Krieg darum kämpft, dass ihre Stimme gehört wird.
Es geht nicht nur um die Frauenrechtsbewegung, die sich für das Wahlrecht und für das Recht einen Universitätsabschluss zu besitzen einsetzt, sondern auch um den ungewürdigten Einsatz der Frauen im Ersten Weltkrieg und während des Ausbruchs der Spanischen Grippe, die ihren Weg von der Front bis nach Oxford findet. Mit ihrem Roman möchte die Autorin all diesen Frauen ein Denkmal setzen. Frauen, die in der Freiwilligen Hilfsabteilung an der Front starben oder traumatisiert heimkehrten. Frauen, die an der Spanischen Grippe erkrankten und starben, während sie sich um andere Erkrankte kümmerten. Frauen, die die Wirtschaft am Laufen hielten, während sich die Männer an der Front gegenseitig umbrachten. Die weibliche Perspektive auf den Krieg wurde so gut wie nie dokumentiert, doch der Autorin ist es sehr gut gelungen, diese darzustellen und zu erzählen.
In „The Bookbinder of Jericho” kommt man um die Ereignisse rundum den Ersten Weltkrieg nicht herum. Im Roman werden verschiedene Perspektiven auf den Krieg eingebunden. Zum einen steht vor allem die deutsche Invasion Belgiens im Vordergrund. Großbritannien nimmt mehr als 250.000 Flüchtlinge auf. Im Roman werden die Kriegsverbrechen und Traumata, die die deutsche Invasion (von den Alliierten auch als „Rape of Belgium“ bezeichnet) bei den Zivilist*innen und Soldaten verursacht hat verschiedentlich aufgearbeitet. Eine wichtige Stimme hier ist Lotte: Die traumatischen Erlebnisse haben sie gezeichnet und die Autorin zeigt, wie sie in Maude eine Art Fluchtort findet. Vor allem die Zerstörung Louvains bestimmt das Schicksal so vieler Figuren auf tragische Weise.
Weiterhin erfährt man durch einen Briefwechsel zwischen Peggy und Tilda, einer Figur, der man auch schon in „The Dictionary of Lost Words” begegnet ist, das unmittelbare Kriegsgeschehen. Tilda hat sich für die Freiwillige Hilfsabteilung (VAD – Voluntary Aid Detachment) gemeldet und arbeitet als Krankenschwester direkt an der Front. Zunächst erfährt man nicht viel, da die Briefe der Zensur unterworfen sind, bis Tilda einen Weg um die Zensur herum findet und ungeschönt von den Kriegstoten, den -verletzungen und der Situation vor Ort erzählt. Wenn Tilda von jungen, deutschen Soldaten erzählt, die sterbend nach ihren Müttern rufen, geht das beim Lesen nicht einfach so an einem vorbei.
Doch in Peggys unmittelbarer Umgebung sind es nicht nur die Frauen, die vom Krieg berichten oder ihn erleben. Auch durch die Männer in Peggys Leben beleuchtet die Autorin die Auswirkungen des Krieges. Einer davon ist Bastiaan, ein belgischer Versehrter. Ich bin kein großer Fan von Romantik in Romanen, aber die Autorin findet hier ein gutes Gleichgewicht. Und es geht wirklich mehr um Liebe als um Lust. Liebe und die Hoffnung auf ein neues Leben verschränken sich und bleiben der Klischeehaftigkeit fern. Peggy und Bastiaan versuchen dem Krieg im Kleinen zu entfliehen, obwohl er allgegenwärtig ist. Man sieht wie die Menschen einen Alltag etablieren und versuchen, diesen aufrechtzuerhalten.
Als würde der Krieg nicht reichen, sieht sich Peggy immer wieder mit Klassismus konfrontiert. Sowohl bei ihrer Arbeit als Freiwillige im Militärkrankenhaus (da sind zB Offiziere, die sie aufgrund ihrer Herkunft nicht in ihrer Nähe haben wollen) als auch bei ihrem Wunsch am Frauen-College zu studieren und bei der Auseinandersetzung mit der Frauenrechtsbewegung. Peggys Lebensumstände werden von der Autorin auch nicht romantisiert oder überhöht. Ja, sie lebt in einer schwimmenden Bibliothek, aber als Leser*in wird einem klar, dass daran nichts „cozy“ ist. Peggy macht es eben das Beste aus ihren beschränkten Möglichkeiten. Und sie versucht ständig aus ihrer „Beschränkung“ auszubrechen: Peggys Wunsch zu studieren, ist wie ein roter Faden, der sich durch den gesamten Roman zieht. Viele andere Konflikte sind mit diesem roten Faden verstrickt und Peggy braucht sehr viel Geduld und Durchhaltevermögen, um diese Knoten aufzulösen. Obwohl der Ausgang dieses Kampfes, den Peggy gegen die Gesellschaft führt, recht vorhersehbar war, war der Weg dorthin umso überraschender und packender.
Mein Fazit
„The Bookbinder of Jericho“ von Pip Williams hat sich einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen verdient. Man könnte zunächst meinen, dass man hier einen Feel-Good-Feminismus-Roman in der Hand hält, aber man wird schnell eines Besseren belehrt. Dieser Roman ist vielschichtig und nimmt schwerwiegende Themen nicht auf die leichte Schulter. Absolute Leseempfehlung!