Das Buch liegt auf einem grauen und weißen Stoff-Untergrund. Um das Buch herum liegen drei Fotografien, die Graffities zeigen: "Burn Patriarchy", "Patriarchat abfackeln" und "Patriarchat abtreiben" steht an den Wänden

[Rezension] Unlearn Patriarchy

Unlearn Patriarchy – Lisa Jaspers (Hrsg.), Naomi Ryland (Hrsg.), Silvie Horch (Hrsg.)

Das Buch liegt auf einem grauen und weißen Stoff-Untergrund. Um das Buch herum liegen drei Fotografien, die Graffities zeigen:

Verlag: Ullstein Buchverlage | Seiten: 320
Erscheinungsjahr: 2022

Kurzbeschreibung

In 15 Essays zu Themen wie Sprache, Rassismus, Bildung oder Arbeit werden patriarchale Strukturen, die unbewusst unseren Alltag bestimmen nach und nach aufgedeckt. Die Autor*innen zeigen, wie man diese Strukturen überwinden kann.


Meine Meinung

An Leipziger Hauswänden liest man es immer wieder: „Patriarchat abfackeln!“ oder gar „Patriarchat abtreiben“. Die Autor*innen dieses Sammelbandes gehen einen Schritt zurück, nehmen eine andere, auf den ersten Blick weniger destruktive Perspektive ein und fragen: „Wie sollen wir das Patriarchat zerstören, wenn wir es selbst in uns tragen? Wenn wir es sind?“ (S. 10). Anhand dieser Leitfrage enttarnen die Autor*innen auf verschiedenen Ebenen und Themenbereichen unseres Zusammenlebens patriarchale Muster, Glaubenssätze und Überzeugungen.

Die Zusammensetzung der Schreibenden ist divers; die Stimme eines cis Mannes sucht man vergeblich, denn die Herausgeberinnen wollten ihre Macht und Privilegien nutzen, um marginalisierten Gruppen eine Stimme zu geben. Den Herausgeberinnen liegt die Sichtbarkeit diverser und auch gegensätzlicher Perspektiven sehr am Herzen – der Sammelband ist kein Meinungs-Einheitsbrei. Die Entscheidung keine cis männliche Person in diesem Sammelband zu Wort kommen zu lassen, habe ich sehr begrüßt und um ehrlich zu sein, habe ich die Perspektive auch nicht vermisst. Einige Autor*innen kannte ich schon aus vorhergehenden Lektüren oder Lesungen oder stehen auf meiner Leseliste ganz weit oben, dazu gehören Linus Giese, Kübra Gümüsay, Teresa Bücker, Emilia Roig oder Kristina Lunz.

Die Essays haben nicht nur inhaltlich unterschiedliche Schwerpunkte, sondern sie sind auch stilistisch sehr verschiedenartig gestaltet. Mal spricht der*die Autor*in den Lesenden direkt an, siezend oder duzend, mal ist es ein Dialog zwischen zwei Autor*innen und mal ein Dialog zwischen fiktiven Personen. Zu Beginn der Essays findet man einen knappen Glossar, da die Autor*innen keine einheitliche Terminologie verwenden.

Inhaltlich haben mich die Essays unterschiedlich stark angesprochen und begeistert. Dies war vor allem davon abhängig, wie sehr ich mich in der Vergangenheit schon mit dem Thema auseinandergesetzt habe und auch wie viele Berührungspunkte es zwischen dem Thema und meinem (derzeitigen) Alltag gibt. Die Beiträge von Linus Giese und Kübra Gümüsay haben mich an ihre Publikationen erinnert („Ich bin Linus“ bzw. „Sprache und Sein“), die ich bereits gelesen habe. Da sind mir sehr viele Überlappungen aufgefallen, aber das hat die Essays nicht weniger lesenswert gemacht. Wiederholung festigt ja schließlich die grauen Zellen (oder so).

Insgesamt hat mich die Essay-Sammlung auch an das Buch „Zart und frei“ von Carolin Wiedemann erinnert, da in dem Buch eine Vielzahl der hier behandelten Themen in ähnlicher Weise besprochen werden. Aber: Ich würde empfehlen zuerst zu „Unlearn Patriarchy“ zu greifen und dann zu „Zart und frei“, weil sich Ersteres auch eher an Einsteiger*innen wendet und eher einen Überblick über die verschiedenen Diskurse bietet. Dennoch sollte man schon ein bisschen Vorwissen zum intersektionalen (Queer-)Feminismus mitbringen. Dieses Vorwissen hilft auch dabei, die Terminologie, die in den Essays auf unterschiedliche Weise verwendet wird, besser einzuorden.

Ich muss ehrlich sagen, dass ich inhaltlich nicht von allem überzeugt war, aber das war ja auch bei dieser Bandbreite von Perspektiven zu erwarten. Herausheben möchte ich nun bestimmte Essays, die mir aus den unterschiedlichsten Gründen positiv oder negativ aufgefallen sind.

Die Perspektive auf das Thema Sex hat mich überrascht. Als asexuelle Person habe ich erwartet, dass Asexualität eine wichtige Rolle spielen würde. Das war nicht der Fall – ich musste also meine Erwartungshaltung anpassen. Die Autorin des Kapitels, Laura Gehlhaar, ist behindert und da liegt natürlich nichts näher als das Thema Sex aus dieser Perspektive zu betrachten. In feministischen Diskursen ist das allerdings keine Selbstverständlichkeit, denn behinderte Personen finden in feministischen Diskursen nur selten Platz und werden häufig ausgeschlossen (diese Achse der Intersektionalität wird gerne mal übersehen). Deswegen fand ich diese Perspektive sehr aufschlussreich, denn zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich noch nicht eingehender mit Ableismus auseinandergesetzt habe. Und ganz ehrlich, ich brauche auch nicht den drölften Essay über Sex Positivity, in dem lang und breit darüber monologisiert wird, warum wir alle mehr Sex haben sollten.

Der Beitrag zum Thema Geld hat mich hingegen enttäuscht. Hier erzählt eine fiktive reiche Erbin, Felicitas, die sich total missverstanden fühlt. Sie spricht über ihre Probleme und Sorgen mit der Göttin der Verletzlichkeit. Felicitas suhlt sich sehr im Selbstmitleid und fühlt sich als Reiche in feministischen Diskursen häufig als Außenseiterin, obwohl sie sich doch ach so sehr engagiert. Irgendwo hat auch diese Perspektive ihre Berechtigung, auch wenn sie in diesem Kontext etwas anstößig erscheint. Vor allem weil Felicitas von ihren BiPoC-Freund*innen Aufklärung und Hilfe erwartet. Felicitas sollte lieber mal den Essay von Lena Marbacher zum Thema Arbeit und den Essay von Lisa Jaspers zum Thema Kapitalismus lesen. Da findet sie wertvolle Tipps. Und apropos kostenloser Aufklärungsarbeit von BiPoC-Menschen: An dieser Stelle sei dann auch der Essay zum Thema Rassismus von Olaolu Fajembola und Tebogo Nimidé-Dundadengar genannt und gelobt, den sich Felicitas unbedingt zu Gemüte führen sollte.

Etwas schwammig fand ich auch den Beitrag zum Thema Wissenschaft von Friederike Otto. Die Strukturen, die Autorin dort kritisiert, spielen eine wichtige Rolle in der Wissenschaft und das, was sie schreibt, hat definitiv Hand und Fuß, aber es hing mir alles zu sehr in der Luft. Als Wissenschaftlerin sind mir die Probleme im Wissenschaftsbetrieb durchaus bekannt, aber die Autorin setzt mit ihrer Problemlösung zu weit oben an. Ich war überrascht darüber, dass sie die Diskussion um die #ichbinhanna/#ichbinreyhan-Bewegung mit keinem Wort erwähnt, da doch dort so viele problematische (patriarchale) Strukturen kritisiert werden. Aber wie die Herausgeberinnen im Vorwort schreiben, muss man bei der Lektüre der Essays seine eigene Erwartungshaltung etwas zurückschrauben, denn es gibt nicht nur einen richtigen Weg ein Thema zu betrachten.

Absolute Highlights waren für mich die Essays zur Identität (Madeleine Alizadeh) und zur Politik (Kristina Lunz). Ich freue mich auch schon sehr darauf, Kristina Lunz‘ Buch zur feministischen Außenpolitik zu lesen!

Ich war auch sehr überrascht darüber, dass es keinen Essay zum Thema Gesundheit/Gender Medizin gab. Das Thema wird zwar kurz im Kapitel zum Rassismus angeschnitten, aber mehr auch nicht. Gerade dieses Thema hätte ich in einem solchen Sammelband mehr als nur erwartet (meine Meinung als Betroffene einer chronisch unterforschten „Frauen“-Krankheit – nämlich Endometriose)!

Man sollte nicht mit falschen Erwartungen an die Lektüre herangehen, das habe ich in dieser Rezension schon sehr deutlich gemacht. Aber das betrifft nicht nur die Betrachtung der Themen, sondern auch die Lehren, die jede*r Leser*in aus der Lektüre ziehen können. Die Autor*innen legen den Leser*innen keine Checkliste mit konkreten Handlungsanweisungen vor, mit deren Hilfe man das Patriarchat ein für alle mal dekonstruieren kann. Manche geben einem Handlungsideen und Impulse an die Hand, geben konkrete Beispiele aus der Praxis, aber oftmals muss man zwischen den Zeilen lesen und sich seine eigene Herangehensweisen extrapolieren. Die Autor*innen zeigen Stellschrauben auf, an denen wir drehen können oder die wir selbst einbauen müssen, um Veränderung auszulösen und voranzutreiben. Dieser Sammelband ist kein Masterplan, aber er kann dabei helfen, einen zu entwerfen!

Manches mag utopisch und nicht umsetzbar erscheinen, das stimmt. Und natürlich können nicht alle Vorschläge sofort 1:1 umgesetzt werden, aber vielleicht können die Vorschläge Veränderung anstoßen. Dabei denke ich besonders an das Kapitel zum Thema Arbeit, in dem die Autorin sehr spezifische Vorschläge zur Veränderung von Unternehmensstrukturen macht. Da mir zu diesem Themenbereich auch das nötige Fachwissen fehlt, kann ich gar nicht beurteilen, wie umsetzbar ihre Vorschläge überhaupt sind.

Dieser Essay-Band ist definitiv als Handlungsaufforderung zu verstehen. Denn vom Lesen allein wird nicht viel passieen. Die richtige Arbeit fängt erst an, wenn man die Buchdeckel schließt. Ich habe mich nach der Lektüre hingesetzt und habe mir anhand all der markierten Textstellen neue Handlungsweisen, Glaubenssätze und Überzeugungen zusammengeschrieben, die ich in meinen Alltag und in mein Leben integrieren möchte. Das klingt dann ungefähr so:

  • Mit Worten diskriminierungsfreie Räume schaffen
  • Das Gendersternchen ist nur ein Meilenstein; es kann nicht das Ziel sein
  • Beschäftige dich mit Geschlecht, besonders mit Geschlechtern, die sich von deinem unterscheiden
  • Gestalte den Bereich, in dem du tätig bist, inklusiv
  • Die nicht-normative Frau ist nicht das Problem, sondern die Gesellschaft, die ihr nicht den Raum zugesteht, sich darin frei zu entfalten
  • Choice-Feminismus führt zu einer Entsolidarisierung mit Menschen, die weniger Ressourcen haben als andere

Je nachdem welche Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen, können sich die Lehren und Konsequenzen für jede Person unterscheiden. Nicht alle können von einem priviligierten Ausgangspunkt heraus handeln. Das ist wichtig zu bedenken, wenn man Veränderung fordert. Meinen Arbeitsplatz kann ich zB nur bedingt inklusiver gestalten; eine Führungsperson hat da mehr Spielraum. Aber ich habe zB meinen Blog und auf dieser Plattform nutze ich meine Möglichkeiten, einen diskriminierungsfreien Raum zu schaffen.


Mein Fazit

Diese 15 Essays zerstören das Patriarchat vielleicht nicht, aber sie können seine Grundfesten erschüttert. Im Kleinen können sie Anregung für Veränderung geben. Nicht alles ist jetzt 1:1 umsetzbar, manches wird erst in Zukunft möglich sein. Aber wenn man jetzt nicht anfängt, sich über eine offenere und freiere Gesellschaft Gedanken zu machen, wann dann? Wer Impulse für die Gestaltung eines selbstbestimmten, queerfeministischen und freieren Leben sucht, der*die liegt mit diesem Buch goldrichtig.


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