[Rezension] Unlearn Patriarchy #2

Unlearn Patriarchy #2- Emilia Roig, Alexandra Zykunov, Silvia Horch (Hrsg.)

Beide Essaysammlungen liegen auf einer Decke, umgeben von Kissen. Daneben liegen zwei Fotos von Graffitis: Patriarchat abfackeln

Verlag: Ullstein Hardcover | Seiten: 352
Erscheinungsjahr: 2024

Kurzbeschreibung

Wer geglaubt hat, „Unlearn Patriarchy #1“ hätte alle patriarchalen Strukturen in unserer Gesellschaft aufgedeckt, der*die irrt sich ungemein. „Unlearn Patriarchy #2“ macht dort weiter, wo der erste Band aufgehört hat und wartet mit alten, aber vor allem neuen Themenschwerpunkten und Perspektiven auf, wie Architektur, Kirche, Medizin, Mental Health sowie Krieg und Genozid.


Meine Meinung

In meiner Rezension zum ersten „Unlearn Patriarchy“-Band habe ich angemerkt, dass ich es überraschend fand, dass der Band keinen Essay zum Thema Gesundheit/Gender Medizin enthielt. Natürlich war mir schon zu dem Zeitpunkt klar, dass ein Sachbuch nicht auf alle strukturellen Problemthemen hinweisen könnte, dass es, wie die Herausgeberinnen in Band zwei richtig sagen: „dass dies nur der Anfang sein konnte“ (S. 7). Und als hätten die Herausgerberinnen meine Rezension gelesen (Träume werden ja wohl noch erlaubt sein), findet sich in neuem Band gleich mehrere Essays, die sich mit dem Thema Gesundheit im weiteren Sinne befassen. Daher bin ich mit sehr viel Vorfreude an die Essaysammlung herangegangen.

Der zweite Essay-Band nimmt den Faden also dort wieder auf, wo der erste Band aufgehört hat: Ein neues Herausgerberinnenteam bestehend aus Emilia Roig, Alexander Zykunov und Silvie Horch machen sich frisch ans Werk, neue und alte Themen zu bearbeiten. Der Vorsatz lautet dabei: „nicht in die Falle des privilegierten weißen Feminismus zu tappen“ (S. 8). Sie wollen keinen „Girl-Power-Slogan im patriarchalen Schafspelz“ (S. 9). Und es gelingt ihnen, diesen Vorsatz einzuhalten. Der neue Essayband ist geprägt von einem hohen Grad an Intersektionalität sowohl im Hinblick auf die Themen als auch in Hinsicht auf die Autor*innen. Ein Satz, der mich im Vorwort ein bisschen zum Lachen gebracht hat, war die Aufforderung, dass die Männer jetzt dran seien, „zu lernen und zu unlearnen, Platz zu machen und endlich etwas zu verändern“ (S. 9) – ehrenhaft, aber ich bin skeptisch.

Der Ton, den die einzelnen Autor*innen an den Tag legen, ist im Vergleich zum ersten Band verändert: Die Autor*innen sind bei der Ansprache der Leser*innen und beim Vermitteln ihrer Botschaften entschiedener und strenger. Sie nehmen kein Blatt vor dem Mund und man findet öfter mal einen erhobenen Zeigefinger. Der erste Band war in dieser Hinsicht noch etwas zaghafter, gemäßigter und vorsichtiger – sie sondierte wohl eher die Lage. Das hat dieser Band nicht mehr nötig.

Auch bei diesem Essayband bin ich mit einigen Standpunkten mehr auf einer Wellenlänge als mit anderen, weshalb ich in dieser Rezension den Blick auf die Essays richte, die mir aus verschiedenen Gründen positiv oder negaiv aufgefallen sind.

Der erste Essay „Unlearn Körper“ hat mich direkt zu Anfang vor eine Herausforderung gestellt und ich bin ehrlich: Ich musste ihn mehrmals lesen und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich den Standpunkt und die Aussage von Yassamin-Sophia Boussaoud vollständig verstanden habe. Grob gesagt, geht es in dem Essay um das Zusammenspiel von Fettleibigkeit, Fettfeindlichkeit, Rassismus und struktureller Diskriminierung. Boussaoud schreibt: „Echte Liebe, nicht fetischisierte Sexualität gibt es für dick_fette Menschen in dieser Gesellschaft nicht“ (S. 21) – meint sie also, dass wenn man fettleibige Menschen (sexuell) nicht attraktiv findet, man sie im Umkehrschluss diskriminiert? Als weiße, schlanke, cis Frau fällt es mir schwer, diese Aussagen in irgendeiner Art zu bewerten, auch wenn ich ehrlich bin, dass ich ihnen skeptisch gegenüberstehe. Eine abschließende Meinung zum Essay habe ich nicht, weil ich auch einfach so viele Fragen habe. Soweit ich das verstanden habe, möchte Boussaoud sich nicht ständig für ihre Fettleibigkeit rechtfertigen müssen, sondern sie möchte Aufmerksamkeit darauf lenken und Verständnis dafür wecken, dass es Diskriminierung aufgrund von Fettleibigkeit gibt und dass diese unrecht ist – und diesem Standpunkt schließe ich mich an.

An dem Essay sind mir aber auch andere Aussagen etwas sauer aufgestoßen zB die Behauptung Sexualität sei eine „der ursprünglichsten menschlichen Bedürfnisse“ (S. 23) – als asexuelle Person würde sagen: gewagte These! Auch spricht Boussaoud von „systematischer Asexualisierung“ (S. 21), dass sie als „asexuelles Wesen“ (S. 23) betrachtet wird, dass man fettleibige Menschen also nicht sexy finden könnte. Es ist aber ein Unterschied, ob jemand von sich selbst sagt, er empfinde keine sexuelle Anziehung (als sexuelle Orientierung) oder ob jemand anderes sagt, diese Person finde ich sexuell nicht attraktiv – und der Autorin geht es um letzteres, um „Entsexualisierung“ und nicht um Asexualität und asexuell sein. An diesen Stellen sollte die Autorin ihren Sprachgebrauch wirklich nochmal überdenken, denn: Asexualität ist weder abwertend noch entmenschlichend! Und ich bin auch kein „asexuelles Wesen“.

Den Essay „Unlearn Gender Pay Gap“ möchte ich an dieser Stelle lobend hervorheben. In den Medien wird immer nur von einem Gender Pay Gap gesprochen, dabei gibt es mehr als einen „Pay Gap“: Gender Boni Gap, Migration Wage Gap, Weight Gap, Class Pay Gap, Gender Tax Gap, Gender Kinderkrankentage Gap, Gender Pension Gap usw. Ein Kapitel bei dem man sich richtig freut, eine Frau zu sein!

Der Essay „Unlearn Krieg und Genozid“ war wirklich harter Tobak – aber nicht nur auf emotionaler Ebene. Zu Beginn des Essays setzt die Autorin Melina Borčak eine Triggerwarnung. Sie „gilt für traumatisierte Menschen, nicht als Ausrede für das Ignorieren ‚harter‘ Themen. Also wenn du keine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hast, bitte lesen“ (S. 214). Und während ich der Meinung bin, dass man sich auch mit diesen Themen auseinandersetzen sollte, hat diese TW durchaus einen passiv-aggressiven Charakter. Dieser Aufruf kann funktionieren, er kann aber auch nach hinten losgehen. Im Essay geht es ua um den Genozid an Bosniak*innen, um Vergewaltigung als Kriegswaffe und um mangelnde Gesetze, die die Menschen im Falle von Kriegsverbrechen schützen. Melina Borčak spricht auch über eine mangelhafte Erinnerungskultur hinsichtlich des Völkermords in Bosnien. Sie kritisiert weiterhin die Weigerung der Politik, auf Genozidexpert*innen (bisschen missglückte Wortbildung wie ich finde) zu hören.

Diesen Essay in seinen historischen, politischen, kulturellen, begriffsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Implikationen richtig zu bewerten, fiel mir unglaublich schwer – ich sage es ehrlich, dazu fehlten mir Wissen und Kompetenz. Der Begriff „Genozid“ ist in unserer Gesellschaft stark aufgeblasen und in seiner Verwendung sehr schwammig. Was heißt es zB wenn die Autorin schreibt, der Holocaust (ua) wurde nie „von internationalen Gerichten als solcher eingestuft“ (S. 215), aber unsere Bundesregierung dennoch das Wort „Völkermord“ verwendet (zB https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796538). Zu diesem Thema begleiten mich jetzt immer noch viele Fragen und Unsicherheiten. Das zeigt eindeutig, dass ein Essay manchmal nicht genug ist, sondern nur ein Anfang sein kann.

Für das Kapitel „Unlearn Kirche“ bin ich wohl zu zynisch. Das Engagement der Autorin und ihre Überzeugung sind durchaus zu loben und ich finde es ehrenwert, dass sie in einer Gesellschaft wie der unseren an ihrem Vertrauen in Gott festhalten konnte. Dabei findet sie auch kritische Worte für die Institution Kirche. Dennoch konnte sie mich mit dieser Einstellung nicht abholen. Ich bin trotzdem der Meinung, dass es ein wichtiger Essay ist, der anderen Menschen bestimmt sehr viel Kraft gibt bzw. geben kann.

Die thematische Ausrichtung des Essays „Unlearn Medizin“ hat mich insgesamt überrascht, aber in positiver Hinsicht. Ich hatte erwartet, dass es vor allem um die sogenannten „Frauenkrankheiten“ gehen würde, die von der Medizin gerne mal vernachlässigt oder kleingeredet werden. Stattdessen lag der Fokus der Kritik darauf, dass die derzeitige Medizin und das Gesundheitswesen hauptsächlich auf weiße, heteronormative Patienten ausgerichtet ist. Es geht also um den strukturellen Rassismus in unserem Gesundheitssystem. Doch die Autorinnen Mandy Mangler und Gonza Ngoumou kritisieren nicht nur, sie machen auch konkrete Veränderungsvorschläge und unterscheiden dabei eine strukturelle und eine individuelle Ebene.

Wer das Buch „Frauen Literatur“ von Nicole Seifert kennt, der oder die wird im Essay „Unlearn Literatur“ nur wenig Neues finden. Es war allerdings eine angenehme Auffrischung des Themenkomplexes und fügt sich sehr gut in den Rahmen des Sammelbandes ein. Wie heißt es so schön: Wiederholung festigt den Lernstoff.


Mein Fazit

Ich kann nicht sagen, dass ich den einen Band besser fand als den anderen. Die Essaysammlungen haben unterschiedliche Stile, Themenschwerpunkte und Stimmen. Das macht die Bände einzigartig und untereinander nicht vergleichbar. Ich muss aber zugeben, dass Band 2 stark kontroverse Themen und Standpunkte umfasst und auch bei mir hin und wieder einen Nerv getroffen hat. Ich stimme nicht mit allem und nicht mit jedem überein und ich sehe einige Aussagen durchaus kritisch. Mancher Essay hat mich mit mehr Fragen zurückgelassen als er Antworten gegeben hat. Dennoch konnte ich in jedem Essay einen (wenn auch manchmal kleinen) gemeinsamen Nenner finden. Absolute Leseempfehlung!


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