Titel: Vox
Autorin: Christina Dalcher
Original: Vox
Übersetzerinnen: Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol
Verlag: S. Fischer Verlage
Erschienen: 2018
Seiten: 400
Kurzbeschreibung
In den USA dürfen Frauen nicht mehr als 100 Wörter am Tag sprechen. In Schulen werden Mädchen durch Wettbewerbe und Preise dazu angehalten, so wenig wie möglich zu sprechen. Doch die Wissenschaftlerin Dr. Jean McClellan möchte dies nicht hinnehmen. Als ihr die Regierung eines Tages eine unerwartete Chance gibt, ihre Stimme und ihre Arbeit für etwas Gutes zu nutzen, beginnt der Kampf um die Rechte der Frauen.
Meine Meinung
Vor Kurzem habe ich noch einen Roman gelesen, in dem es darum ging den Frauen, auf unkonventionelle Art und Weise, eine Stimme zu geben. Nun lese ich wie den Frauen die Stimme, auf eine menschenunwürdige Art und Weise, genommen wird. So schnell kann sich das Blatt wenden.
Der Einstieg in die Geschichte gelingt und ist ganz einfach. Durch die Ich-Erzählung sind die Ereignisse greifbar und nachvollziehbar. Glücklicherweise handelt es sich bei der Erzählweise um ein eher distanziertes Erzählen, das die Ereignisse reflektiert und kommentiert. Und sich so nicht in einem Wirbel von Emotionen verliert.
Das was geschildert wird, ist schockierend und krass. Der Roman punktet im ersten Teil der Handlung mit effektheischenden, emotionalen und extremen Bildern: Frauen dürfen nur 100 Wörter am Tag sprechen. Halten sie diese Regelung nicht ein, wird ihnen ein elektrischer Schlag verpasst. In den Schulen lernen Mädchen nicht mehr Lesen und Schreiben, sondern Buchhaltung. Frauen werden auf die Haushaltsführung, das Kinderkriegen und auf sonstige Ehepflichten reduziert. Pflichten: haben die Frauen jede Menge. Rechte: keine einzigen. Was ich hier darlege, ist nur die Spitze des Eisberges. Die Liste der Gräueltaten ist lang. Was man zu lesen bekommt, ist einfach nur ekelhaft und aufwühlend. Kurzum zum Kotzen.
Und wer sind die schwarzen Schafe? Die Männer und der Religionsfanatismus. Dies ist in unserer aktuellen Gesellschaft ein einfach Ziel, weil so viel Uneinigkeit darüber herrscht. Es ist ein Thema, das polarisiert. Genau wie der Feminismus. Während der Lektüre kocht man innerlich vor Hass und Wut. Man wird sauer auf die Männer, auf die Religion, aber vor allem auf die Ohnmacht von Frauen wie Jean, die wussten was passieren könnte. Schließlich saß sie an der Quelle: ihre Freundin Jackie, die sich im Gegenteil zu Jean wehrte und den Preis für ihren Mut und ihr Engagement zahlen musste. Ich denke, dass die Emotionen vor allem deswegen hochkochen, weil man sich ein bisschen selbst in Jean wiedererkennt. Vielleicht ist man ja wählen gegangen, aber demonstrieren? Dadurch erzeugt die Autorin einen Spiegel. Und dieser Spiegel sorgt für Entrüstung.
Bei den Beschreibungen der dystopischen Weltordnung, die in den USA vorherrscht, hat mir besonders gut gefallen, wie nicht nur die sozialen und kulturellen Auswirkungen der Wortschatzbegrenzung aufgezeigt werden, sondern auch die linguistischen, psychologischen und medizinischen Konsequenzen. Das ist der Autorin auf eine sehr eindringliche Art und Weise gelungen.
Die erste Hälfte hat mir erzählerisch und thematisch sehr gut gefallen. Sie war bombastisch und rasant. Die Eindrücke prasselten beim Lesen unaufhaltsam ein. Man bekam vor Grausamkeit keine Luft mehr. Die zweite Hälfte hingegen hat mir weniger gut gefallen. Sie wirkt etwas gemäßigter, fällt gelegentlich aus dem Rahmen und wird vorhersehbar. Einige Verhaltensweisen der Figuren sind seltsam. Teilweise fand ich es sogar anstrengend zu lesen, weil mir Jean öfter auf die Nerven ging. Sie schien einfach nur noch da zu sein und nicht mehr aktiv am Geschehen beteilgt. Größtenteils bemitleidet sie sich nur noch selbst. Sie schien mir mehr und mehr nur noch ein Vorwand zu sein damit die Handlung weiterhin funktioniert. Wobei ich die Handlung gegen Ende auch eher schwach fand.
Im zweiten Teil liegt der Fokus nicht mehr auf den Lebensumständen, von denen ich gerne noch mehr gelesen hätte, sondern es geht um Wissenschaft und Forschung und um Wiederstand. Das Thema Aphasie fand ich sehr interessant, vor allem weil ich davon schon mal etwas während meines Studiums gelesen habe. Ich fand etwas seltsam, dass der führende Experte auf diesem Gebiet, in einem Land wie den USA (328,4 Millionen Einwohner), ausgerechnet eine Frau sein soll. Aber gut, für die Handlung nun mal unabdingbar. Im Zusammenhang mit der Wissenschaft fand ich es auch interessant, dass zwar die ‚Religion‘ (für mich ist das keine richtige Religion mehr) auf dem Vormarsch ist, aber ohne Wissenschaft und ohne Frauen zum Stillstand kommt. Ein schöner symbolischer Stinkefinger. Das Ende hat mich auch ein wenig gestört, vor allem weil alles ziemlich schnell abgehandelt wurde. Sehr schade. Wenn einige Punkte weiter ausgeführt worden wären, hätte man noch sehr viel mehr rausholen können.
Die Autorin hat diesen Roman als Warnung geschrieben. Nicht als Warnung vor den Männern oder der Religion, sondern als Weckruf für die Frauen, den Arsch hochzukriegen und sich für sich selbst und andere einzusetzen. Wählen zu gehen, den eigenen Standpunkt zu vertreten, der Bequemlichkeit den Stinkefinder zu zeigen usw. Man sollte öfter mal auf das schlechte Gewissen, die ‚innere Jackie‘, hören. Die Autorin bringt in ‚Vox‘ viele wahre Worte zur Sprache, tendiert aber zu Übertreibungen und rutscht oft ins Extreme ab.
Mein Fazit
‚Vox‘ ist ein sehr ernst(zunehmend)er Roman, der viele wichtige Themen behandelt. Ich bin begeistert, aber nicht auf eine entzückte oder enthusiastische Art und Weise, sondern eher ernüchtert. Der Roman hat Schwächen (die Handlung und die Protagonistin) und Stärken (die dystopischen Lebensumstände), aber er überzeugt vor allem aufgrund seiner Nachricht, die er transportiert. Es ist wichtig für die Welt einzustehen, in der man Leben möchte, für Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung. Am besten BEVOR es zum Einsatz von Gewalt kommt.